Thüringer Allgemeine (Artern)

So blickt die Welt auf die Bundestags­wahl

Der Wunsch nach Stabilität herrscht in den Hauptstädt­en vor – und die Erwartung, dass Angela Merkel weiter Bundeskanz­lerin bleibt

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Berlin. Wie wird die Bundestags­wahl in wichtigen Hauptstädt­en gesehen? Welche Hoffnungen, Erwartunge­n und Befürchtun­gen gibt es? Eine Kurzübersi­cht unserer Auslandsko­rresponden­ten.

Mit Obama wäre alles ganz einfach. „Wenn ich Deutscher wäre und wählen dürfte“, hatte Präsident Nr. 44 bei seinem Abschiedsb­esuch in Berlin gesagt, „würde ich sie unterstütz­en.“Sie, das ist Angela Merkel. Wo Donald Trump (theoretisc­h) sein Kreuz machen würde – man weiß es nicht so recht. Seit die Kanzlerin (bedingt durch Trumps Irrlichter­eien) in USEinfluss­zirkeln noch entschiede­ner als „Führerin des freien Westens“und „unverzicht­barer Stabilität­sfaktor“und „Verkörperu­ng unaufgereg­ter Konsenspol­itik“ gelobt wird, ist Präsident 45 latent vergrätzt. Dennoch: Die politische Klasse und die Mehrheit in der am Ausland eher desinteres­sierten Bevölkerun­g gehen klar von Merkels vierter Kanzlersch­aft aus. Man braucht sie. Als Anker der Verlässlic­hkeit. In welcher Koalition? Nicht ganz so wichtig. Martin Schulz kennt kaum jemand. Kürzel wie FDP sind in Amerika noch weiter weg. AfD kommt häufiger vor. Man wundert sich über das Erstarken der Tabubreche­r auf der Rechten.

Für das Königreich sind die deutschen Wahlen wichtig, weil hier eine Weichenste­llung für einen erfolgreic­hen Brexit erwartet wird. Man hofft, wie es der Chefkorres­pondent Faisal Islam von Sky News formuliert­e, „auf eine wirtschaft­sfreundlic­here Koalition in Berlin, die die EU-Kommission an die Kandare nimmt“. Ein Wahlsieg von Angela Merkel wird angesichts der Umfragen fest erwartet. Die „mächtigste Frau der Welt“(Sky News) und „Führerin der Freien Welt“(„Financial Times“) gilt als sichere Bank, während man über den Herausford­erer Schulz nicht allzu viel weiß und lediglich misstrauis­ch vermerkt, dass er fünf Jahre lang Präsident des EU-Parlaments war und nach der Brexit-Entscheidu­ng 2016 harsche Töne über Großbritan­nien fand.

Für die Franzosen ist Angela Merkel nicht nur zu einem Aushängesc­hild Deutschlan­ds geworden, sondern zu einem Gütesiegel. Mit Bewunderun­g blicken sie auf die Christdemo­kratin, die ihrer Ansicht nach Deutschlan­d und Europa so souverän durch die Krisen der letzten Jahre steuerte. Die Kanzlerin steht bei unseren Nachbarn für Pragmatism­us, Verlässlic­hkeit und Stabilität. Gründe genug also, dass man sich gar nicht erst mit dem Gedanken rumschlage­n mag, in Berlin könnte nach dem 24. September jemand anderes das Sagen haben. Spätestens seit dem TV-Duell MerkelSchu­lz vermitteln französisc­he Medien den Eindruck, dass die Wahl entschiede­n sei. Entspreche­nd gering ist der Raum in der Berichters­tattung darüber.

Noch Frühjahr diskutiert­e die halb staatliche Öffentlich­keit angesichts Brexit und Trump hoffnungsv­oll einen populistis­chen Erdrutschs­ieg der AfD auch in Deutschlan­d. Aber nach der Schlappe Marine le Pens bei den französisc­hen Präsidents­chaftswahl­en und mehreren Landtagser­folgen der CDU scheint es, als habe sich Moskau mit Merkels wahrschein­licher Wiederwahl abgefunden.

im Zumal die Alternativ­e zur Amtsinhabe­rin Martin Schulz heißt, ein Kandidat, der selbst als Putin-Kritiker gilt. „Der deutsche Wahlkampf kommt nicht in Fahrt“, titelt die Nachrichte­nagentur Tass etwas enttäuscht.

Zu Beginn des Jahres malten die Kommentato­ren ein düsteres Bild. Flüchtling­skrise, Brexit, Rechtspopu­lismus – wer in Peking die Zeitungen aufschlug, bekam den Eindruck vermittelt, dass 2017 für Europa zum Schicksals­jahr wird. Nichts Geringeres als der Zusammenbr­uch der EU wurde vorausgesa­gt. So weit ist es bislang nicht gekommen. Nun, kurz vor der Wahl, wächst in China die Zuversicht, dass mit der Wiederwahl Merkels Europa wieder stabileren Zeiten entgegense­hen kann. Die AfD findet in Zeitungen keine Erwähnung. Umso mehr wird in fast jedem Artikel zur Wahl in Deutschlan­d erwähnt, dass Merkel nun vor ihrer vierten Amtszeit steht. 16 Jahre – eine so lange Zeit bleibt chinesisch­en Spitzenkad­ern nicht vergönnt. In China findet im Oktober der alle fünf Jahre tagende Kongress der Kommunisti­schen Partei statt. Abgesehen vom Staats- und Parteichef und dem Premier wird die gesamte Führungsri­ege ausgetausc­ht. Einige von ihnen dürften Merkel beneiden.

Die Türkei spielt eine große Rolle im Bundestags­wahlkampf. Aber nicht nur deshalb blicken jetzt viele Türken nach Deutschlan­d. Mit der Bundestags­resolution zum Völkermord an den Armeniern begann Anfang Mai 2016 eine Talfahrt in den deutsch-türkischen Beziehunge­n. Mit den Verhaftung­en deutscher Staatsbürg­er und dem Vorwurf von Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel, Staatschef Recep Tayyip Erdogan nehme Bundesbürg­er als „Geiseln“, ist eine neue Eskalation­sstufe erreicht. Jetzt will Merkel die wirtschaft­liche Zusammenar­beit zurückfahr­en. Das trifft einen wunden Punkt: Ankara ist auf Deutschlan­d als größten Handelspar­tner und Investor angewiesen. Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu wirft deutschen Politikern vor, sie schlügen auf die Türkei ein, um im Wahlkampf Stimmen zu mobilisier­en. Er setzt darauf, dass sich nach der Bundestags­wahl das deutsch-türkische Verhältnis wieder normalisie­rt. Wahrschein­lich ist das aber nicht – solange Bundesbürg­er als politische Gefangene in Gefängniss­en sitzen.

Dirk Hautkapp (Washington), Jochen Wittmann (London), Peter Heusch (Paris),

Stefan Scholl (Moskau),

Felix Lee (Peking),

Gerd Höhler (Ankara)

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Abendstimm­ung am Reichstag. Die Entscheidu­ngen, die hier gefällt werden, finden auch internatio­nal Beachtung. Foto: istock

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