Neue Buchrecherchen in Ostthüringen
Der in Gera geborene Schriftsteller Lutz Seiler erhält heute den Thüringer Literaturpreis – Ein Gespräch
Erfurt. Heute Abend wird dem Lyriker, Erzähler und Essayisten Lutz Seiler im Erfurter Haus Dacheröden der Thüringer Literaturpreis verliehen. Damit ehren der Freistaat und die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen zugleich das Werk eines Autors, der seine biografischen und literarischen Wurzeln in der Region hat. Bisherige Preisträger waren Sigrid Damm, Ingo Schulze, Reiner Kunze, Jürgen Becker, Kathrin Schmidt und Wulf Kirsten.
Herr Seiler, Sie haben einmal gesagt, je älter Sie werden, desto wichtiger wird Ihnen die Heimat. Nun bekommen Sie den Thüringer Literaturpreis. Was bedeutet Ihnen gerade dieser Preis?
Sehr viel, ich fühle mich geehrt und tatsächlich wahrgenommen in meinem Werk, zumal meine Herkunft für die Entwicklung meines Werkes so entscheidend gewesen ist. Im Grunde war die Erinnerung an die Kindheit mit dem zweiten Buch da, etwa die Erinnerung an den Ostthüringer Uranbergbau.
Zu Beginn Ihres Lebens haben Sie mit Ihren Eltern in Culmitzsch gelebt, einem Dorf, das dem Uranabbau weichen musste.
Genau, es wurde geschleift. Gerade in den letzten Monaten habe ich mich ziemlich intensiv mit dieser Culmitzscher Geschichte beziehungsweise mit der Geschichte meiner Großmutter beschäftigt, die dort gelebt hat und Weberin war.
Recherchieren Sie für einen neuen Roman?
Es könnte einer werden. Ich habe in dieser Thüringen-Recherche schon mit vielen Leuten gesprochen, vor allem aus meiner Familie. Mein Vater hat viele detaillierte Erinnerungen an seine Kindheit in Culmitzsch. Es ist ganz wichtig, jetzt mit dieser Generation zu sprechen, um die Erinnerungen zu bewahren.
Wird der Heimatverlust in diesem Roman das zentrale Thema sein?
Es geht im weitesten Sinne um Zeitenbrüche, um Umbrüche. Die Wismut-Geschichte ist da nur ein Kapitel. Auch die ganze Industrialisierung der Gegend durch die Textilindustrie gehört dazu. In den 20er-, 30er-Jahren spielte die Textilbranche eine große Rolle, auch in meiner Familie. Mein Vater hat noch selbst den Beruf des Webers gelernt. Es geht um Aufstieg und Untergang dieser Industrien, des Bergbaus und der Textilindustrie, nach der Wende. Und es geht um Biografien in diesen Zeitenwenden. Der Verlust des Heimatdorfes spielt dabei natürlich eine große Rolle. Das ist ein Stoff, den ich schon über eine lange Zeit verfolge und zu dem ich schon seit Jahren Material sammle. Das ist aber nicht das Buch, an dem ich sitze.
An welchem Buch schreiben Sie denn gerade?
Ich bin gerade in Ahrenshoop und versuche, einmal zusammenhängend Zeit zum Schreiben zu finden. Im weitesten Sinne wird es sich bei meinem neuen Roman um eine Nachwende-Geschichte handeln.
Ist es jene Geschichte, an der Sie verzweifelt saßen, bevor Sie sich dem „Kruso“-Stoff zuwendeten?
Ja, es ist dieser Stoff, die Jahre ’89 bis ’91 in Berlin. Im Zentrum des Ganzen steht eine Kneipe, in der ich damals gearbeitet habe, die „Assel“. Damals war das die erste neue Kneipe in der Oranienburger Straße in BerlinMitte.
Wann wird der Roman fertig sein? Können Sie das abschätzen?
Nein, bei mir dauert alles sehr lange. Der „Spiegel“hat Gera in einem Artikel Anfang Juli als abgehängte, erschöpfte Stadt beschrieben. Wie empfinden Sie Ihre Heimatstadt? Das, was nach der Wende mit Gera passiert ist, vor allem mit der Innenstadt, das hat einem dermaßen wehgetan, dass man sich fast abwenden wollte. Aber man kommt von hier und ist damit befasst, es ist einem eben nicht egal. Durch Freunde, mit denen ich zur Schule gegangen bin, habe ich inzwischen ein anderes Bild. Der Architekt Heiko Wendrich und sein Studenten-Förderverein engagieren sich auf bewundernswerte Weise und mit viel Initiative für Gera, es geht ihnen darum, Gera zu einer Studentenstadt zu machen. Gerade die junge Generation ist für die Lebendigkeit einer Stadt und ihre Zukunft entscheidend. Ich bin selbst Mitglied in diesem Verein. Ein solches bürgerschaftliches Engagement muss man einfach unterstützen, hier ist natürlich auch die Politik gefragt.
In der Erzählung „Der Stotterer“haben Sie die Erinnerungen an die Garagensonntage mit Ihrem Vater verarbeitet, wie Sie zu DDR-Zeiten an den Familienfahrzeugen gebastelt haben, er am Shiguli, Sie am Moped. Welche Kindheitserinnerungen fanden noch Eingang in
Ihre Geschichten?
In der Erzählung „Der Kapuzenkuss“habe ich einen Schultag in Gera-Langenberg beschrieben. Sie erschien wie der „Stotterer“im Erzählband „Die Zeitwaage“, es ist die längste Erzählung im Band. Das ist natürlich Literatur, aber manches kann man wiedererkennen.
Waren Sie eigentlich ein ängstliches oder ein neugieriges Kind?
Vor allem bin ich sehr früh eingeschult worden, im Grunde zu früh. Mein Geburtstag lag eigentlich jenseits aller Stichtage. Meine Eltern waren aber der Meinung, der Junge solle jetzt mal in die Schule. Dazu musste ich extra eine Aufnahmeprüfung machen, bei unserer Direktorin Frau Wittig in Gera-Langenberg. Sie hat mir zwei Fragen gestellt. Erstens: „Was hat dein Vater für Werkzeug in seiner Werkzeugkiste?“Da konnte ich ein bisschen was aufzählen, das ging ganz gut. Die zweite Frage lautete: „Was braucht die Mutti zum Kaffee-Kochen?“Ich habe geantwortet: „Einen Topf, Wasser, den Herd.“– „Und was noch?“Ich kam nicht darauf und wurde panisch, da war etwas, das ich offensichtlich nicht wusste, das mir verborgen geblieben war. „Kaffee! Man braucht Kaffee!“, rief Frau Wittig. Ich war gerade sechs geworden damals und habe in diesem Moment zum ersten Mal die Tücken des Lebens begriffen, vielleicht nicht begriffen, aber eine erste Ahnung war da. Natürlich war ich davon ausgegangen, dass der Kaffee praktisch schon da steht. In die Schule durfte ich dann trotzdem gehen. Weil ich über ein Jahr jünger war als alle anderen, war ich dann relativ klein, beim Sport der Drittletzte in der Reihe.
Ihre Begeisterung für die Literatur wurde erst in der Armee geweckt. Während die anderen in der Freizeit Schwibbögen sägten, begannen Sie zu lesen. Es ist schwer vorstellbar, dass Sie Ihre besondere Beobachtungsgabe und Ihr Gespür für Sprache erst so spät entdeckten. Das Talent muss sich doch vorher einmal gezeigt haben?
Talent kann man schwer selbst einschätzen. Es gab schon in der Kindheit eine Phase, in der ich gelesen habe. Das verlor sich dann aber wieder vollkommen. Dann waren Motorräder, Mädchen und der Blues wichtig, die Clique, das gemeinsame Auf-dieDörfer-ziehen zum Tanz.
Ihr Roman „Kruso“wird vom MDR verfilmt. Sind Sie in das Projekt mit eingebunden?
Ich spiele eine beratende Rolle, bin aber nicht unmittelbar beteiligt. Das Drehbuch kommt von Thomas Kirchner, der auch das Drehbuch zum „Turm“geschrieben hat. Thomas Stuber, der kürzlich den Deutschen Filmpreis gewann, führt Regie und hat ein sehr gutes Team, sehr gute Schauspieler. In diesen Tagen wird gedreht.