Die alten Freunde
Über Kisch, Hemingway und ein wenig über Fidel: Landolf Scherzer ist zur Herbstlese mit seinen Lieblingsbüchern zu Gast
Erfurt. Das Gespräch beginnt mit Scherzerscher Selbstironie. Über fremde Bücher zu reden, sinniert er, sei schwieriger: Da muss man was richtig Kluges sagen. Um fremde Bücher soll es gehen, wenn er am Sonntag auf Herbstlese-Publikum trifft: „Mein Lieblingsbuch“heißt die Lesereihe. Worüber also wollen wir reden? Aber so einfach, wirft er ein, ist es mit dem einen Lieblingsbuch nicht. Jede Lebensphase hat ihre eignen Bücher.
Da sind die Bücher der Kindheit. Die liest man womöglich nie wieder, aber die Erinnerung an sie ist eine verlässliche Konstante. Ein Echo aus dem verwehten Kindheitsland. Auch Bücher können Heimat sein. Lange nachdenken muss er nicht. „Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen“, das erste Indianerbuch, das in der DDR erschien. Wie habe ich es geliebt!
Oder die Bücher, die ein Heranwachsender liest, mit eine Menge Fragen und Vermutungen im Kopf, das Leben und die Liebe betreffend. Zolas „Nana“zum Beispiel, mit dem er stundenlang heimlich hinter dem Bibliotheksregal hockte, weil das Buch nur Erwachsene ausleihen durften. Im Ernst? Genauso war es, lacht er in den Telefonhörer.
Dann gibt es die Bücher, die einen lebenslangen Abdruck auf der Seele hinterlassen. Aitmatows „Der weiße Dampfer“war so ein Buch. Oder „Romeo und Julia in der Finsternis“von Jan Otcenásek, diese tragische Liebesgeschichte zwischen einer Jüdin und einem Tschechen in der NSZeit. Bücher, zu denen man immer wieder greift, in denen man den Sehnsüchten und der Suche der eigenen Jugend wieder begegnet. Auch wenn ihr Echo heute zuweilen ein anderes ist. „Der weiße Dampfer“hatte er einst mit Hoffnung gelesen. Heute, sinniert er, weckt das Buch nur noch Sehnsucht. Aber solche Bücher trägt man in sich.
Vielleicht, weil man jung sein muss, damit einem Bücher so widerfahren können? Vielleicht, weil man etwas sucht, das einen hält, entgegnet Scherzer. Nennen wir es Ortsbestimmung! Die von Tendrjakow, Schukschin, Aitmatow und Granin zum Beispiel, weil sie aus dem Schwarz-Weiß des realen Sozialismus Der Schriftsteller Landolf Scherzer hat sich mit seinen literarischen Reportagen, zuletzt über China und Griechenland, einen Namen gemacht. Am kommenden Sonntag wird es allerdings um Bücher anderer Autoren gehen, die ihm wichtig sind – zum Beispiel Ernest Hemingway (rechts).Foto: Holger John/dpa
ausbrachen. Die Wirklichkeit und den Menschen darin ehrlich beschreiben, ohne ihn zu verraten: Danach suchte er doch, als er Student der Journalistik in Leipzig wurde. Die Reportagen und Erzählungen von Kisch und Hemingway, weil sie zeigten, wie man das macht.
Überhaupt. Hemingway! Wie hatten sie ihn damals zusammen mit Jean Villain, dem Schweizer Publizisten, der in der DDR die Kunst der Reportage lehrte, durchbuchstabiert. Seine Kunst der Reduktion, seine Dialoge, seine Erzähltechnik. Er könne, sagt Scherzer, sich nicht erinnern, wie oft er „Der alte Mann und das Meer“gelesen hat.
Und später, als sie ihn von der Uni
feuerten, weil er mit seinem Lehrer genau solche Reportagen schreiben wollte, da wurde ihm die Heminwaysche Novelle vom einsamen Kampf auf andere Weise wichtig. Hatte Santiago, der alte Mann, verloren, weil er nur das Skelett des großen Fisches nach Hause brachte? Das Leben hält Siege in vielerlei Gestalt bereit. Aber kämpfen muss man. Dieses Buch hatte er damals sehr gebraucht.
Jahre später sollte sich das Buch gewissermaßen durch die Hintertür in sein Leben schleichen: Als er für vier Monate an Bord eines DDRFischtrawlers ging. Das Buch „Fänger und Gefangene“, das daraus entstand, sagt er, ist ihm von allen seinen Büchern das Wichtigste. Weil diese
vier Monate auf See für ihn die wichtigsten seines Lebens waren. So kann es einem ergehen mit den Büchern der Jugend.
Oder später, als er Frei Bettos „Nachtgespräche mit Fidel“las. Da wurde plötzlich aus einem sozialistischen Idol, einem Denkmal, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Der über Fehler und Zweifel redete. Der Sätze sagte wie: „In Jesus begegnet uns die uneingeschränkte Option für die Armen.“Ein Buch wie eine Offenbarung für ihn.
Daran musste er denken, als er im vergangenen November in der langen Reihe der Trauernden in Havanna anstand. Er war für sein neues Buch nach Kuba gereist, einen Tag nach seiner Ankunft starb Fidel. Und heute, welches kapitale Gegenwartswerk geht ihm unter die Haut? Schweigen. Ganz ehrlich, er kann keines nennen. Manchmal greift er zu Lyrik. Oder – man möge ihm die abgegriffene Redensart verzeihen – zu den alten Bücherfreunden.
Aber so ist es wohl: Je älter man wird, desto schwieriger fallen neue Freundschaften.
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Nach Guy Montavon, mit dem die Reihe „Mein Lieblingsbuch“startete, ist Landolf Scherzer an diesem Sonntag, . September, um Uhr im Haus Dacheröden in Erfurt Gast der Herbstlese.