Thüringer Allgemeine (Artern)

Schwimmen gegen den Strom

Dem Schriftste­ller Lutz Rathenow zum 65.

- Von Frank Quilitzsch

Jena. Keine andere Brücke hat Lutz Rathenow so häufig überquert wie die Camsdorfer in Jena-Ost. Noch heute erinnert sich der 1952 in der Saalestadt geborene Autor an den Weihespruc­h von Ricarda Huch: „Fasse Mut und schwimme oder springe“. Was waren echte Alternativ­en? fragt er sich ein Vierteljah­rhundert nach dem Untergang der DDR: „Bereit sein für Unerwartet­es, Riskantes, um dem Gefängnis des Gewohnten zu entkommen.“

Rathenow, der an der Jenaer FriedrichS­chiller-Universitä­t Pädagogik, Deutsch und Geschichte studierte, bis er 1977 wegen der Proteste gegen die Ausbürgeru­ng Wolf Biermanns exmatrikul­iert wurde, hat den Sprung gewagt. Er ist geschwomme­n – gegen den Strom. Schon als Leiter des opposition­ellen Jenaer „Arbeitskre­ises Literatur und Lyrik“, dem auch Jürgen Fuchs angehörte. Dann auch als Verfasser von literarisc­hen Texten.

Der Geschasste ging nach Berlin, wo man ihn 1980 wegen des in der Bundesrepu­blik erschienen­en Prosabande­s „Mit dem Schlimmste­n wurde schon gerechnet“verhaftete. Christa Wolf und Günter Grass setzten sich für seine Freilassun­g ein. Rathenow blieb im Lande, lehnte Ausreisean­gebote ab.

Warum? Weil er dort wirken wollte, wo er zu Hause war. „Ich habe mich nie nur als Dissident gesehen. Auch meine vor 1989 verfassten Texte waren keine bloße DDR-Auseinande­rsetzung“, erklärte er einmal unserer Zeitung.

Nach der Wende ist der Lyriker, Erzähler und Kinderbuch­autor – zuletzt erschien „Der Elefant auf dem Trampolin. Gedichte zum Größerwerd­en“– auch als Journalist hervorgetr­eten, über mehrere Jahre als Kolumnist der Ostthüring­er Zeitung. Auch wenn seine Schreiblin­ien in verschiede­ne Richtungen laufen, holt ihn die DDR immer wieder ein. In der Funktion des Sächsische­n Landesbeau­ftragten für die Stasi-Unterlagen ist Rathenow seit 2011 auch hauptamtli­ch mit der Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit befasst.

Doch sein Metier bleibt die Literatur. Aus seinem Werk ragt der in Zusammenar­beit mit dem Fotografen Harald Hauswald entstanden­e Bild-Text-Band „OstBerlin“hervor. 1987 nur im Westen erschienen, stellte dieser zur 750-Jahr-Feier Berlins dem offizielle­n Bild der sozialisti­schen Hauptstadt ungeschmin­kte Ansichten vom Alltagsleb­en entgegen. Zum 30. Jubiläum des inzwischen mehrfach aufgelegte­n Buches und zum heutigen 65. Geburtstag des Autors erscheint „OstBerlin“nun als hochwertig­er Bildband.

Möge die Schwimmlus­t des Jubilars auch im Aktenstaub nicht versiegen.

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Lutz Rathenow. Foto: Lutz Prager

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