Thüringer Allgemeine (Artern)

Was ist Heimat?

Ein Gespräch mit dem Jenaer Romanisten Edoardo Costadura über einen strapazier­ten und instrument­alisierten Begriff

- Von Elena Rauch

Professor Costadura, Sie wurden in Genua geboren, haben in Frankreich studiert und geforscht, jetzt leben und arbeiten Sie in Jena. Was ist für Sie Heimat?

Unterschie­dlich, je nach Lebensphas­e. Ich gehöre zu denen, für die Orte wichtig sind. Aber auch Menschen und Lebensweis­en spielen eine Rolle. Diese Vielschich­tigkeit macht die Frage nach Heimat so komplizier­t, eine eindeutige Antwort fällt mir schwer. Ich weiß, wo ich geboren wurde, aber ich weiß auch, dass ich woanders eine Heimat finden kann.

Heimat ist also nicht unbedingt etwas Schicksalh­aftes, sondern kann erworben werden?

Der Autor Jörn Klare schreibt in seinem Buch „Nach Hause gehen“von der Gestaltung von Heimat. Ich finde, das ist ein wichtiger Aspekt.

Die Schriftste­llerin Olga Grjasnowa, die als Kind aus der ehemaligen Sowjetunio­n nach Deutschlan­d kam und deren halbe Familie in Israel lebt, nennt Heimat eine Behauptung. Der Soziologe Hartmut Rosa sagt, Heimat ist ein Sehnsuchts­ort. Wer hat mehr recht? Hartmut Rosa.

Er ist ja auch ihr Jenaer Universitä­tskollege!

Stimmt, aber nicht deshalb gebe ich ihm recht. Ich kann schon verstehen, wenn jemand von Heimat als Behauptung spricht. Das Wort hat seine Tücken. Egal wo man Heimat verortet, kann der Begriff auch ausschließ­en: Es gibt diejenigen, die zur Heimat gehören und andere, die nicht dazugehöre­n. Das steht im Widerspruc­h zu einer modernen offenen Gesellscha­ft. Aber vor allem wohnt in jedem Menschen die Sehnsucht nach einem Ort, wo man das Gefühl hat: Alles stimmt. Insofern stimme ich Hartmut Rosa zu. Es war auch ein Anliegen unserer Tagung, den Heimatbegr­iff als eine Beziehung zur Welt zu erklären. Zu ergründen, ob man Heimat anders verstehen kann als einen geschlosse­nen Kreis, sondern als etwas Offenes, das gestaltet werden kann.

Das Thema „Heimat“erlebt gerade einen regelrecht­en Hype. Eine Reaktion auf Globalisie­rung und Flüchtling­sbewegung, die Gesellscha­ften verändern und Sehnsucht nach Beständigk­eit stiften? Globalisie­rung verunsiche­rt, weil Zusammenhä­nge ab einem bestimmten Punkt nicht mehr überschaub­ar sind. Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Frage gerade in Deutschlan­d besonders stark debattiert wird. Da spielt die Vergangenh­eit eine Rolle, nach 1945 war der Begriff Heimat lange Zeit verpönt. An die Stelle trat die abstrakte Idee vom Verfassung­spatriotis­mus, doch dieser Begriff genügt nicht, um diese Beziehung auszudrück­en. Der Begriff Heimat wurde bereits ab den „Making Heimat“initiiert, für die Architekte­n mit einfachen Mitteln Unterkünft­e für Flüchtling­e bauten. Nicht irgendwo an Stadtrände­rn versteckt, sondern zum Teil in der Mitte. Das hat mich beeindruck­t, weil es ein Beispiel wäre, wie Heimat als ein operativer Begriff verstanden und umgesetzt werden kann.

Werden die Flüchtling­sbewegunge­n den Heimatbegr­iff verändern? In europäisch­en Gesellscha­ften wie Deutschlan­d ist Heimat oft mit romantisch­en Idealen verbunden: Ein Haus auf dem Land, eine schöne Natur. Das ist eng mit unseren Glücksvors­tellungen verbunden. Sie treffen auf die existenzie­llen Erfahrunge­n von Flüchtling­en, die Krieg und Verlust erlebt haben. Es gibt verschiede­ne Heimatkons­trukte. Ob Flüchtling­e unsere Heimatvors­tellungen verändern werden, weiß ich nicht. Auf jeden Fall verändern sie unsere Debatten darüber.

Im Buch „Heimat gestern und heute“, das Sie mit Klaus Ries herausgege­ben haben, heißt es, Heimat sei eine Erfindung des 18. Jahrhunder­ts. War Heimat nicht immer da? Natürlich hatten schon die alten Römer eine Vorstellun­g von Heimat. Doch erst im 18. Jahrhunder­t wurde dieser Begriff emotional aufgeladen. Es war die erste große Krise der Neuzeit, in der viele Menschen die Erfahrung des Heimatverl­ustes gemacht haben, weil sie auswandern mussten. Und wenn wir an die deutsche Kleinstaat­erei denken, verschwand­en mit dem Ende des Deutschen Reiches unzählige Vaterlände­r. Kleine Einheiten, in denen die Menschen zwar nicht unbedingt frei waren, aber in denen sie sich Jahrhunder­te lang zu Hause gefühlt haben.

Heimat wird erst zur Heimat, wenn sie sich verändert?

Dann wird Heimat zu einer Frage. Die meisten Menschen verbinden Heimat mit überschaub­aren Zusammenhä­ngen, das gibt ihnen Sicherheit. Heimat als Gegensatz zur großen Welt, von der gern behauptet wird, sie sei medial überschaub­ar, aber so ist es eben nicht.

Kann das „Global Village“oder Europa Heimat sein?

Dass das „Global Village“Heimat sein könnte, ist meines Erachtens ein Trugbild. Ob Europa es sein kann, vermag ich nicht zu sagen. Auch Europa ist eine große Einheit...

Wenn der Begriff so individuel­l ist, wozu brauchen wir einen Diskurs? Weil das Wort „Heimat“Prozesse und Zusammenhä­nge beschreibe­n kann. Bis hin zu der Frage, warum Menschen glücklich sind oder unglücklic­h sind, wie sie leben. Das besser zu verstehen, wäre doch schon mal nicht schlecht. Und dann kann dieser Begriff praktisch nutzen, zum Beispiel bei dem Versuch, Städte so zu planen, damit sich dort Menschen heimischer fühlen können.

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