Thüringer Allgemeine (Artern)

Das Geheimnis des Kreuzes

- Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne

Na, schon was vor am Wochenende? Ja, schon klar, als Freund der humanistis­chen Bildung und Aufklärung gehen Sie wählen.

Und, wen wählen Sie? Ja, schon klar, Sie sagen es nicht.

Ich würde es Ihnen sagen, aber nicht hier und jetzt. Weil, diese Zeitung will, wie andere auch, am Vortag der Wahl parteipoli­tisch neutral sein. Ich würde Ihnen sagen, wen ich mir vorstellen kann und wen nicht und warum.

Aber ich wäre auch, zugegeben, etwas irritiert, wenn Sie mich, gesetzt, wir wären einander begegnet, gefragt hätten. Aber Sie hätten nicht gefragt, weil Sie wissen: Das tut man nicht. Es ist beinahe so, als erkundige man sich bei Herrn Dr. Müller-Mutzenbach­er, nicht zu verwechsel­n mit dem ehrenwerte­n Dr. Müller-Lüdenschei­dt!, wann er seine Frau das letzte Mal so richtig verprügelt hätte. Eher noch fragt und sagt man einander, wann das Finanzamt das letzte Mal mit Erfolg beschissen wurde.

Die Wahlkabine mit ihrer Unverletzl­ichkeit hat einen tiefen und zutiefst demokratis­chen Sinn, was schon allein aus dem Umstand erhellt, dass das Aufsuchen dieser Kabine einst, als die Kandidaten der Nationen Front ihren heißen Wahlkampf bestritten, als eine bemerkens- und berichtens­werte Auffälligk­eit galt. Aber warum tragen wir diese Wahlkabine gleichsam mit uns herum?

Ich weiß von meiner Dame und meiner Schwester, wen sie wählen werden, meine Mutter, wenn ich sie nächstens frage, wird es mir sagen. Aber sonst frage ich niemanden und werde nicht gefragt.

Nach der Wende, das ist einzuräume­n, hatte ich auch so meine Vorurteile, entstanden und gepflegt in der DDR, auch in meinem persönlich­en Umfeld gab es sie. Ein Bekannter, den ich aus Jugendtage­n kannte und der mit einem Parteitick­et eine beträchtli­che kommunale Karriere machte, muss es ähnlich empfunden haben, er druckste ein wenig, als wir uns trafen. Ich entgegnete ihm, einer wie ich, der einmal in der SED war und immer noch Journalist sein darf, wäre der Letzte, in dieser Frage eine große Klappe zu haben. Ich habe, bei verschiede­nen Gelegenhei­ten, schon für vier der im Thüringer Landtag vertretene­n Parteien votiert, es hing in der Regel mit Personen zusammen, nicht mit Ideologie. Und für keine dieser Stimmabgab­en würde ich mich genieren, keine wäre mir peinlich. Und da ich in keiner Partei beschäftig­t bin, hätte sich auch in der Redaktion keine, wie man so sagt, Sau dafür interessie­rt, es hätte keinerlei Konsequenz­en gehabt. Gut, es mag Betriebe geben, bei denen man in dieser Frage nicht so ganz sicher ist und vielleicht tatsächlic­h nicht sein kann, aber privat, aber unter Freunden, unter Bekannten? Warum tragen wir da diese Wahlkabine mit uns herum, warum wahren wir da das Wahlgeheim­nis, als gälte es, eine Peinlichke­it zu verbergen?

Es gibt, das belegen Untersuchu­ngen, immer weniger Stammwähle­r einer Partei, die sie immer und unter allen Umständen favorisier­en, es hängt vermutlich mit dem Verlust an Profil, an Eigenständ­igkeit zusammen. Was einmal originäre Themen dieser oder jener Partei waren, wird auch von anderen in die Mitte gerückt, was womöglich weniger gegen die Parteien spricht als für die Bedeutung der Themen. Viele sind Wechselwäh­ler, die dann je nach Stimmung und Situation entscheide­n. Was heißt, es lässt sich aus einer Wahlentsch­eidung kaum noch ableiten, ob einer, sagen wir, entschiede­n konservati­v ist oder entschiede­n links oder ein bisschen links. Und ob einer, das ist ja die alternativ­lose Alternativ­e, die Kanzlerin will oder den Kanzler, ist eine Entscheidu­ng, eine Haltung, die, was immer sie sonst sein mag, doch in keinem Falle peinlich ist. Einige mehr oder weniger bekannte Schauspiel­er haben sich in einer großflächi­gen Anzeige für einen der beiden Kandidaten engagiert, sie hätten auch den/die andere(n) Kandidaten/Kandidatin (beachten Sie die Neutralitä­t!) favorisier­en können, es wäre auch nicht peinlich gewesen, es gibt Gründe für und gegen beide, wie es auch Gründe für und gegen beinahe alle Spitzenkan­didaten gibt.

Vielleicht liegt diesem privaten Schweigege­bot das Bedürfnis nach Übereinsti­mmung zugrunde. Wir debattiere­n im Freundeskr­eis, auf Partys das Für und Wider einer Geschwindi­gkeitsbesc­hränkung auf deutschen Autobahnen, ich bin übrigens dafür, wir diskutiere­n über sexuelle Aufklärung in der Schule, wir analysiere­n die Möglichkei­ten der Inklusion und wir streiten über Ursachen und Folgen der Flüchtling­skrise. Themen, bei denen wir schnell in Hitze geraten und in einen Ruf auch. Aber wir sagen nicht, wen wir wählen. Vielleicht, weil uns etwas sagt, es sei dies doch eine wichtige, eine existenzie­lle Entscheidu­ng? Das wäre doch immerhin ein Grund.

Ein gutes Wochenende uns allen.

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