Das Geheimnis des Kreuzes
Na, schon was vor am Wochenende? Ja, schon klar, als Freund der humanistischen Bildung und Aufklärung gehen Sie wählen.
Und, wen wählen Sie? Ja, schon klar, Sie sagen es nicht.
Ich würde es Ihnen sagen, aber nicht hier und jetzt. Weil, diese Zeitung will, wie andere auch, am Vortag der Wahl parteipolitisch neutral sein. Ich würde Ihnen sagen, wen ich mir vorstellen kann und wen nicht und warum.
Aber ich wäre auch, zugegeben, etwas irritiert, wenn Sie mich, gesetzt, wir wären einander begegnet, gefragt hätten. Aber Sie hätten nicht gefragt, weil Sie wissen: Das tut man nicht. Es ist beinahe so, als erkundige man sich bei Herrn Dr. Müller-Mutzenbacher, nicht zu verwechseln mit dem ehrenwerten Dr. Müller-Lüdenscheidt!, wann er seine Frau das letzte Mal so richtig verprügelt hätte. Eher noch fragt und sagt man einander, wann das Finanzamt das letzte Mal mit Erfolg beschissen wurde.
Die Wahlkabine mit ihrer Unverletzlichkeit hat einen tiefen und zutiefst demokratischen Sinn, was schon allein aus dem Umstand erhellt, dass das Aufsuchen dieser Kabine einst, als die Kandidaten der Nationen Front ihren heißen Wahlkampf bestritten, als eine bemerkens- und berichtenswerte Auffälligkeit galt. Aber warum tragen wir diese Wahlkabine gleichsam mit uns herum?
Ich weiß von meiner Dame und meiner Schwester, wen sie wählen werden, meine Mutter, wenn ich sie nächstens frage, wird es mir sagen. Aber sonst frage ich niemanden und werde nicht gefragt.
Nach der Wende, das ist einzuräumen, hatte ich auch so meine Vorurteile, entstanden und gepflegt in der DDR, auch in meinem persönlichen Umfeld gab es sie. Ein Bekannter, den ich aus Jugendtagen kannte und der mit einem Parteiticket eine beträchtliche kommunale Karriere machte, muss es ähnlich empfunden haben, er druckste ein wenig, als wir uns trafen. Ich entgegnete ihm, einer wie ich, der einmal in der SED war und immer noch Journalist sein darf, wäre der Letzte, in dieser Frage eine große Klappe zu haben. Ich habe, bei verschiedenen Gelegenheiten, schon für vier der im Thüringer Landtag vertretenen Parteien votiert, es hing in der Regel mit Personen zusammen, nicht mit Ideologie. Und für keine dieser Stimmabgaben würde ich mich genieren, keine wäre mir peinlich. Und da ich in keiner Partei beschäftigt bin, hätte sich auch in der Redaktion keine, wie man so sagt, Sau dafür interessiert, es hätte keinerlei Konsequenzen gehabt. Gut, es mag Betriebe geben, bei denen man in dieser Frage nicht so ganz sicher ist und vielleicht tatsächlich nicht sein kann, aber privat, aber unter Freunden, unter Bekannten? Warum tragen wir da diese Wahlkabine mit uns herum, warum wahren wir da das Wahlgeheimnis, als gälte es, eine Peinlichkeit zu verbergen?
Es gibt, das belegen Untersuchungen, immer weniger Stammwähler einer Partei, die sie immer und unter allen Umständen favorisieren, es hängt vermutlich mit dem Verlust an Profil, an Eigenständigkeit zusammen. Was einmal originäre Themen dieser oder jener Partei waren, wird auch von anderen in die Mitte gerückt, was womöglich weniger gegen die Parteien spricht als für die Bedeutung der Themen. Viele sind Wechselwähler, die dann je nach Stimmung und Situation entscheiden. Was heißt, es lässt sich aus einer Wahlentscheidung kaum noch ableiten, ob einer, sagen wir, entschieden konservativ ist oder entschieden links oder ein bisschen links. Und ob einer, das ist ja die alternativlose Alternative, die Kanzlerin will oder den Kanzler, ist eine Entscheidung, eine Haltung, die, was immer sie sonst sein mag, doch in keinem Falle peinlich ist. Einige mehr oder weniger bekannte Schauspieler haben sich in einer großflächigen Anzeige für einen der beiden Kandidaten engagiert, sie hätten auch den/die andere(n) Kandidaten/Kandidatin (beachten Sie die Neutralität!) favorisieren können, es wäre auch nicht peinlich gewesen, es gibt Gründe für und gegen beide, wie es auch Gründe für und gegen beinahe alle Spitzenkandidaten gibt.
Vielleicht liegt diesem privaten Schweigegebot das Bedürfnis nach Übereinstimmung zugrunde. Wir debattieren im Freundeskreis, auf Partys das Für und Wider einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf deutschen Autobahnen, ich bin übrigens dafür, wir diskutieren über sexuelle Aufklärung in der Schule, wir analysieren die Möglichkeiten der Inklusion und wir streiten über Ursachen und Folgen der Flüchtlingskrise. Themen, bei denen wir schnell in Hitze geraten und in einen Ruf auch. Aber wir sagen nicht, wen wir wählen. Vielleicht, weil uns etwas sagt, es sei dies doch eine wichtige, eine existenzielle Entscheidung? Das wäre doch immerhin ein Grund.
Ein gutes Wochenende uns allen.