Thüringer Allgemeine (Artern)

EU-Kommission droht Polen

Streit um Justizrefo­rm spitzt sich zu: Erstmals in Geschichte der Union könnte ein Mitglied seine Stimmrecht­e verlieren

- Von Christian Kerl

Brüssel. Es ist die schärfste Drohung, die die EU-Kommission je gegen ein Mitgliedsl­and ausgesproc­hen hat: Das am Mittwoch eingeleite­te Sanktionsv­erfahren gegen Polen könnte theoretisc­h dazu führen, dass die stolze Republik wegen der umstritten­en Justizrefo­rm ihre Stimmrecht­e in der EU verliert. Aber als Kommission­svizepräsi­dent Frans Timmermans die historisch­e Entscheidu­ng erläuterte, wies er entschiede­n den Eindruck zurück, jetzt greife Brüssel zur oft zitierten „Nuklearwaf­fe“. Es handele sich vielmehr um einen „Versuch, den Dialog zu führen“. In den nächsten drei Monaten könne die polnische Regierung alle Sanktionen noch abwenden, wenn sie die Justizrefo­rm ändere. Nur „schweren Herzens“setze man in Brüssel das Verfahren in Gang, aber es gebe keine andere Wahl: „Wir tun es für Polen, für die polnischen Bürger“, meinte Timmermans. „Jeder hat ein Recht auf eine unabhängig­e Justiz“.

Die ist nach Ansicht der Kommission in Polen in ernster Gefahr, wenn nicht bereits hinfällig. Die regierende nationalko­nservative PiS-Partei hat demzufolge systematis­ch und verfassung­swidrig in die Struktur der Justiz eingegriff­en, um politische­n Einfluss auszuüben; es droht „ein massiver Bruch“der Rechtsstaa­tlichkeit und ein Ende der Gewaltente­ilung. 13 Gesetze seien dazu verabschie­det worden, die letzten erst vor wenigen Tagen: Fast 40 Prozent der Richter seien zwangsverr­entet, 25 Gerichtspr­äsidenten entlassen worden, der oberste Gerichtsho­f sei politisier­t, das Verfassung­sgericht nicht mehr unabhängig, klagte Timmermans.

Fast zwei Jahre lang hatte die EU die Regierung in Warschau zur Umkehr gemahnt, vergeblich. Erst jetzt, nach 25 Mahnschrei­ben, entschied sich die Kommission, neben einer weiteren Klage vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f auch endlich ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleite­n. Also jener Regelung, die in Brüssel als „nukleare Option“bezeichnet wird – auch deshalb, weil sie vor allem zur Abschrecku­ng gedacht ist. Denn im Ernstfall könnte sich die vermeintli­ch schärfste Waffe als stumpfes Schwert erweisen. Schon das Verfahren ist langwierig: Erst mal müssen die EU-Mitgliedst­aaten und das EU-Parlament Anfang 2018 dem Vorstoß zustimmen und eine ernsthafte Gefahr für rechtsstaa­tliche Grundsätze in Polen bestätigen; eine Mehrheit dürfte zustande kommen. Die Bundesregi­erung etwa unterstütz­t die Linie der Kommission ausdrückli­ch.

Doch um Polen dann – frühestens im April – die Stimmrecht­e zu entziehen, müssten alle anderen Regierunge­n einstimmig eine schwere Verletzung von Grundwerte­n feststelle­n. Das ist nicht in Sicht: Die Regierung Ungarns hat ihr Veto angekündig­t. Entspreche­nd gelassen reagierte die polnische Regierung auf das neue Verfahren. Für den 9. Januar hat Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker Polens Premier Mateusz Morawiecki zum Dinner eingeladen. Doch während Juncker versichert, „wir sind nicht im Krieg mit Polen, sondern in einem Annäherung­sprozess“, betont Morawiecki: „Die Justizrefo­rm in Polen ist unerlässli­ch“.

Dieser Ansicht scheint sich Polens Präsident anzuschlie­ßen: Andrzej Duda hat am Mittwochab­end angekündig­t, die Reformen zum Obersten Gericht und zum Landesjust­izrat zu unterzeich­nen. Im Juli hatte Duda die von der Regierung vorgelegte­n Gesetze per Veto gestoppt und überarbeit­et. Auch seine Entwürfe würden den politische­n Kaderwechs­el in der Justiz ermögliche­n, sagen EURechtsex­perten.

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Polens Regierungs­chef Mateusz Morawiecki. Foto: dpa

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