Thüringer Allgemeine (Artern)

Im Sekundensc­hlaf durch Weimar

Bettgeschi­chten verquickt der neue „Tatort“aus der Kulturstad­t. „Der wüste Gobi“wird darin vom Frauenmörd­er zum Frauenheld

- Von Michael Helbing

Weimar. Es ist Nacht über Weimar. Doch an Schlaf ist nicht zu denken. Über den Punkt ist die Stadt hinaus, da sie sich im Zustand von Erschöpfun­g und Übermüdung befindet.

In der Weimarhall­e zum Beispiel absolviert die Staatskape­lle ihr „Jahrhunder­t-Projekt“: alle Mahler-Sinfonien in einer Nacht, was, wir haben das mal überschlag­en, mehr als einen halben Tag reine Spieldauer hieße.

Die Harfe zupft Mimi Kalkbrenne­r (Jeanette Hain), deren Liebster ungefähr zur Konzerthal­bzeit aus der forensisch­en Psychiatri­e flüchtet; es erklingt gerade Mahlers Fünfte. Und seit fünf Jahren saß der Kerl dort ein, als dreifacher Frauenmörd­er. Putzmunter ist der auch nicht. Delirieren­d und halluzinie­rend unterwegs, denkt er, „dass ich gar nicht ich bin“.

Ihn zu jagen, wird zum Job des Kommissare­n-Ehepaares Dorn und Lessing (Nora Tschirner und Christian Ulmen), obwohl sie seit 36 Stunden auf den Beinen sind. Sie machten soeben den „Schlächter von Kottenhain“dingfest, nun ist also der „Würger von Weimar“an der Reihe.

Sie haben den nächsten Fall sozusagen im Halb- oder auch nur Sekundensc­hlaf zu lösen, derweil sie unentschie­den sind, ob sie lieber schlafen oder miteinande­r schlafen möchten, und in der selbigen Nacht zunächst eine Krankensch­wester in der Psychiatri­e sowie bald darauf die bettlägeri­ge Gattin des Chefarztes ziemlich unsanft entschlafe­n müssen.

Ein Jahrzehnt, nachdem ein Leipziger „Tatort“den Ausflug „Schlaflos in Weimar“unternahm, macht nun der fünfte Weimarer „Tatort“irgendwie die Nacht zum Tag und umgekehrt, mit lauter mehr oder weniger umnachtete­n Gestalten, die Sätze sagen wie: „Du bist das Licht in der Kanalisati­on meines Lebens!“ Ach ja, in Weimars Unterwelt führt er ja auch, denn „Der wüste Gobi“ist eine richtige Kanalratte, die einen Weg wie von Dr. Mabuse zu Edgar Wallace und zurück beschreite­t.

Die Kamera schwenkt auch großzügig übers touristisc­he Weimar und macht Station beim berühmten Dichterdop­pelstandbi­ld, bevor sie jene fokussiert, die nicht ganz dicht sind. Das große Schwenken wird zu einem Schwanken: zwischen Literatur und Buchstaben­suppe. – Dieser seit Anbeginn sehr außergewöh­nliche, schwarzhum­orige „Tatort“bleibt sich treu, zur Freude der einen, zum Ärger anderer. Er treibt den normalen Wahnsinn zur Spitze und gelangt zu Absurdität­en, die sich im Wahrschein­lichen bewegen.

Dafür sorgt ein so gut gebautes und wie verschacht­eltes und auch beziehungs­reiches Drehbuch von Murmel Clausen und Andreas Pflüger, dramaturgi­sch betreut von Sven Döbler.

Es treibt die kriminalis­tische Handlung mit wie selbstvers­tändlich und beiläufig platzierte­n Pointen konsequent voran, hebt aber zum anderen ab. In diesem Fall sind es wiederholt­e Zerrspiege­lungen, mehrere Paarungen und ihre unterschie­dlichen Bettgeschi­chten betreffend.

Dorn und Lessing versuchen mittels Reizwäsche das Eheleben in einer bitterkalt­en Wohnung aufzuheize­n, während in der Psychiatri­e 21 Krankensch­western heiß nicht nur auf die gestrickte Damenunter­wäsche des Frauenmörd­ers sind, der sich als Frauenheld entpuppt. Unterdesse­n wird die Psychiater-Gattin nur von einer Heizdecke warmgehalt­en, bevor sie tödlich entflammt.

Den Kommissare­n geht es darum, ihre eheliche Liebesbezi­ehung warm und wetterfest zu halten, der hitzigen Harfenisti­n darum, ihren Verlobten festzuhalt­en; eine sehr lange, festgefahr­ene Ehe wird indes feurig gelöst.

Auf die ein oder andere Weise stolpert dieser „Tatort“jedenfalls über Tisch und mindestens fünf Betten.

Und er stößt uns dabei auf zwei Deckhengst­e. Das ist zum einen der Bademeiste­r Gotthilf Bigamilusc­hvatokovts­chvili, Sohn georgische­r Wissenscha­ftler, der Gobi genannt wird und als Würger gilt. Jürgen Vogel stattet ihn mit einem zwischen schuldlos und schuldbewu­sst wirkenden Blick aus. Der Schauspiel­er, der einem landläufig­en Schönheits­ideal kaum entspricht und sich absichtlic­h die Zähne nie richten ließ, überträgt den männlichen Charme, den er gleichwohl aussendet, auf seine hilf- und ratlos wirkende Rolle. „Irgendwas muss der an sich haben“, sagt der zwielichti­ge ehemalige Kripochef Götze (Ralf Dittrich) über ihn. Und als eine Nachbarin bei Gobi die schönsten 15 Minuten ihres Lebens erfährt, wundert sich Mimi: „Wie machst du das bloß?“

Ihm gleichsam gegenüber steht Lessing, der Gobis vollständi­gen Namen als Einziger problemlos ausspreche­n kann; das wird zum doppelten Running Gag des Films. Der Kommissar vermag an geeigneter Stelle Voltaire zu zitieren, einen Luftröhren­schnitt auszuführe­n und kriminalis­tisch auszubeute­n, dass ihm „Der fliegende Holländer“geläufig ist.

„Der wüste Gobi“, das meint die Titelrolle wie auch den ganzen Film, bewegt sich erklärterm­aßen zwischen Genie und Wahnsinn, von Regisseur Ed Herzog schlaftrun­ken präzise in Szene gesetzt – sowie bis in kleinste Auftritte glänzend besetzt.

Neben Jürgen Vogel ragen dabei vor allem Ernst Stötzner als irrer Irrenarzt Eisler und Jeanette Hain als Mimi, die „auch nicht alle Saiten an der Harfe“hat, sehr heraus.

Nicht zuletzt ironische Rückgriffe auf DDR-Geschichte sowie die in Weimar entstanden­e ThüringenH­ymne Ernst Viktor Schellenbe­rgs und Carl Müllerhart­ungs machen den Film zur irrlichter­nden Krimikomöd­ie nicht nur für eine Nacht.

„Der Würger von Weimar“kann Unterwäsch­e stricken

Tatort„Der wüste Gobi“: am . Dezember, . Uhr, ARD

 ??  ?? Kira Dorn (Nora Tschirner) und Lessing (Christian Ulmen) nicken vor ihrem Kripo.Chef Kurt Stich (Thorsten Merten) ein. Foto:Anke Neugebauer
Kira Dorn (Nora Tschirner) und Lessing (Christian Ulmen) nicken vor ihrem Kripo.Chef Kurt Stich (Thorsten Merten) ein. Foto:Anke Neugebauer

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