Im Sekundenschlaf durch Weimar
Bettgeschichten verquickt der neue „Tatort“aus der Kulturstadt. „Der wüste Gobi“wird darin vom Frauenmörder zum Frauenheld
Weimar. Es ist Nacht über Weimar. Doch an Schlaf ist nicht zu denken. Über den Punkt ist die Stadt hinaus, da sie sich im Zustand von Erschöpfung und Übermüdung befindet.
In der Weimarhalle zum Beispiel absolviert die Staatskapelle ihr „Jahrhundert-Projekt“: alle Mahler-Sinfonien in einer Nacht, was, wir haben das mal überschlagen, mehr als einen halben Tag reine Spieldauer hieße.
Die Harfe zupft Mimi Kalkbrenner (Jeanette Hain), deren Liebster ungefähr zur Konzerthalbzeit aus der forensischen Psychiatrie flüchtet; es erklingt gerade Mahlers Fünfte. Und seit fünf Jahren saß der Kerl dort ein, als dreifacher Frauenmörder. Putzmunter ist der auch nicht. Delirierend und halluzinierend unterwegs, denkt er, „dass ich gar nicht ich bin“.
Ihn zu jagen, wird zum Job des Kommissaren-Ehepaares Dorn und Lessing (Nora Tschirner und Christian Ulmen), obwohl sie seit 36 Stunden auf den Beinen sind. Sie machten soeben den „Schlächter von Kottenhain“dingfest, nun ist also der „Würger von Weimar“an der Reihe.
Sie haben den nächsten Fall sozusagen im Halb- oder auch nur Sekundenschlaf zu lösen, derweil sie unentschieden sind, ob sie lieber schlafen oder miteinander schlafen möchten, und in der selbigen Nacht zunächst eine Krankenschwester in der Psychiatrie sowie bald darauf die bettlägerige Gattin des Chefarztes ziemlich unsanft entschlafen müssen.
Ein Jahrzehnt, nachdem ein Leipziger „Tatort“den Ausflug „Schlaflos in Weimar“unternahm, macht nun der fünfte Weimarer „Tatort“irgendwie die Nacht zum Tag und umgekehrt, mit lauter mehr oder weniger umnachteten Gestalten, die Sätze sagen wie: „Du bist das Licht in der Kanalisation meines Lebens!“ Ach ja, in Weimars Unterwelt führt er ja auch, denn „Der wüste Gobi“ist eine richtige Kanalratte, die einen Weg wie von Dr. Mabuse zu Edgar Wallace und zurück beschreitet.
Die Kamera schwenkt auch großzügig übers touristische Weimar und macht Station beim berühmten Dichterdoppelstandbild, bevor sie jene fokussiert, die nicht ganz dicht sind. Das große Schwenken wird zu einem Schwanken: zwischen Literatur und Buchstabensuppe. – Dieser seit Anbeginn sehr außergewöhnliche, schwarzhumorige „Tatort“bleibt sich treu, zur Freude der einen, zum Ärger anderer. Er treibt den normalen Wahnsinn zur Spitze und gelangt zu Absurditäten, die sich im Wahrscheinlichen bewegen.
Dafür sorgt ein so gut gebautes und wie verschachteltes und auch beziehungsreiches Drehbuch von Murmel Clausen und Andreas Pflüger, dramaturgisch betreut von Sven Döbler.
Es treibt die kriminalistische Handlung mit wie selbstverständlich und beiläufig platzierten Pointen konsequent voran, hebt aber zum anderen ab. In diesem Fall sind es wiederholte Zerrspiegelungen, mehrere Paarungen und ihre unterschiedlichen Bettgeschichten betreffend.
Dorn und Lessing versuchen mittels Reizwäsche das Eheleben in einer bitterkalten Wohnung aufzuheizen, während in der Psychiatrie 21 Krankenschwestern heiß nicht nur auf die gestrickte Damenunterwäsche des Frauenmörders sind, der sich als Frauenheld entpuppt. Unterdessen wird die Psychiater-Gattin nur von einer Heizdecke warmgehalten, bevor sie tödlich entflammt.
Den Kommissaren geht es darum, ihre eheliche Liebesbeziehung warm und wetterfest zu halten, der hitzigen Harfenistin darum, ihren Verlobten festzuhalten; eine sehr lange, festgefahrene Ehe wird indes feurig gelöst.
Auf die ein oder andere Weise stolpert dieser „Tatort“jedenfalls über Tisch und mindestens fünf Betten.
Und er stößt uns dabei auf zwei Deckhengste. Das ist zum einen der Bademeister Gotthilf Bigamiluschvatokovtschvili, Sohn georgischer Wissenschaftler, der Gobi genannt wird und als Würger gilt. Jürgen Vogel stattet ihn mit einem zwischen schuldlos und schuldbewusst wirkenden Blick aus. Der Schauspieler, der einem landläufigen Schönheitsideal kaum entspricht und sich absichtlich die Zähne nie richten ließ, überträgt den männlichen Charme, den er gleichwohl aussendet, auf seine hilf- und ratlos wirkende Rolle. „Irgendwas muss der an sich haben“, sagt der zwielichtige ehemalige Kripochef Götze (Ralf Dittrich) über ihn. Und als eine Nachbarin bei Gobi die schönsten 15 Minuten ihres Lebens erfährt, wundert sich Mimi: „Wie machst du das bloß?“
Ihm gleichsam gegenüber steht Lessing, der Gobis vollständigen Namen als Einziger problemlos aussprechen kann; das wird zum doppelten Running Gag des Films. Der Kommissar vermag an geeigneter Stelle Voltaire zu zitieren, einen Luftröhrenschnitt auszuführen und kriminalistisch auszubeuten, dass ihm „Der fliegende Holländer“geläufig ist.
„Der wüste Gobi“, das meint die Titelrolle wie auch den ganzen Film, bewegt sich erklärtermaßen zwischen Genie und Wahnsinn, von Regisseur Ed Herzog schlaftrunken präzise in Szene gesetzt – sowie bis in kleinste Auftritte glänzend besetzt.
Neben Jürgen Vogel ragen dabei vor allem Ernst Stötzner als irrer Irrenarzt Eisler und Jeanette Hain als Mimi, die „auch nicht alle Saiten an der Harfe“hat, sehr heraus.
Nicht zuletzt ironische Rückgriffe auf DDR-Geschichte sowie die in Weimar entstandene ThüringenHymne Ernst Viktor Schellenbergs und Carl Müllerhartungs machen den Film zur irrlichternden Krimikomödie nicht nur für eine Nacht.
„Der Würger von Weimar“kann Unterwäsche stricken
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Tatort„Der wüste Gobi“: am . Dezember, . Uhr, ARD