Heinrich Böll verkörperte das „andere Deutschland“
Vor 100 Jahren wurde der Literatur-Nobelpreisträger geboren. Kein heutiger Kulturschaffender reicht auch nur entfernt an seinen Einfluss heran
Köln. Was für ein Mensch war Heinrich Böll? Es gibt eine Szene, die ihn ziemlich gut beschreibt: Pressekonferenz in Köln – es geht um Hilfe für vietnamesische Flüchtlinge. Alle Fernsehsender haben Kameras aufgebaut, sogar der Leiter des ARDHauptstadtstudios Bonn, Friedrich Nowottny, ist erschienen, immerhin tritt Literatur-Nobelpreisträger Böll auf. Ein Jungreporter – er schreibt für ein obskures linkes Blättchen – verkündet, er wolle Böll nach der Pressekonferenz noch interviewen. Die Korrespondenten belächeln ihn. Der und ein Einzelinterview!
Aber kaum ist die Pressekonferenz zuende, wendet sich Böll dem jungen Mann zu und beantwortet ihm geduldig und liebenswürdig jede Frage, lässt sich sogar auf eine Diskussion mit ihm ein. Die Korrespondenten müssen warten, einige kochen vor Wut. Noch lange danach erinnert sich Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck: „Böll hatte diese Fähigkeit, die ich selten bei sogenannten großen Leuten wiedergefunden habe: sich auf etwas Kleines einzulassen.“
Den Großen dagegen begegnete Böll zeitlebens mit Misstrauen. Dieser gar nicht so gemütliche oder spaßige Rheinländer, geboren heute vor 100 Jahren in Köln, legte sich mit allen an: mit der CDU, den Wirtschaftsverbänden, der Bundeswehr, dem Springer-Verlag, der katholischen Kirche, aber genauso mit der SPD, die er als „mieseste aller Parteien“bezeichnete.
Er konnte das nur deshalb, weil er selbst eine Macht war – die Verkörperung des „anderen Deutschlands“. Mitte der 1970er-Jahre wählten ihn führende Meinungsmacher in einer Umfrage zur einflussreichsten westdeutschen Persönlichkeit nach Bundeskanzler Helmut Schmidt, dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt und CSU-Chef Franz Josef Strauß. Jeder kannte es, dieses verwelkte Gesicht mit den hängenden Backen, dem meist etwas geöffneten Mund und den melancholischen Augen.
Zwei Jahre nach seinem Tod am 16. Juli 1985 sagte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger: „Wir haben Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace.“Die Rolle solcher später gegründeten Organisationen füllte Böll in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik ganz allein aus.
In seinen Romanen behandelte der gelernte Buchhändler alle brisanten Themen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft: die verdrängte Nazi-Vergangenheit, das Durchregieren der alten Eliten, die Fixierung auf Konsum und Besitz, die Wiederbewaffnung, die Doppelmoral der katholischen Kirche. Jedes neue Buch von ihm war ein Bestseller, der die Medien wochenlang beschäftigte und eine breite gesellschaftliche Debatte auslöste.
Böll war zum Beispiel einer der ersten, die in den 50er-Jahren gegen das Verdrängen des Judenmords anschrieben. Der Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“(1974, 1975 von Margarethe von Trotta verfilmt), in dem Böll die öffentliche Verleumdung und Vorverurteilung einer unbescholtenen Frau durch eine Boulevardzeitung schildert, hat im Zeitalter von „Fake News“und „Shitstorms“noch an Relevanz gewonnen.