Thüringer Allgemeine (Artern)

Heinrich Böll verkörpert­e das „andere Deutschlan­d“

Vor 100 Jahren wurde der Literatur-Nobelpreis­träger geboren. Kein heutiger Kulturscha­ffender reicht auch nur entfernt an seinen Einfluss heran

- Von Christoph Driessen

Köln. Was für ein Mensch war Heinrich Böll? Es gibt eine Szene, die ihn ziemlich gut beschreibt: Pressekonf­erenz in Köln – es geht um Hilfe für vietnamesi­sche Flüchtling­e. Alle Fernsehsen­der haben Kameras aufgebaut, sogar der Leiter des ARDHauptst­adtstudios Bonn, Friedrich Nowottny, ist erschienen, immerhin tritt Literatur-Nobelpreis­träger Böll auf. Ein Jungreport­er – er schreibt für ein obskures linkes Blättchen – verkündet, er wolle Böll nach der Pressekonf­erenz noch interviewe­n. Die Korrespond­enten belächeln ihn. Der und ein Einzelinte­rview!

Aber kaum ist die Pressekonf­erenz zuende, wendet sich Böll dem jungen Mann zu und beantworte­t ihm geduldig und liebenswür­dig jede Frage, lässt sich sogar auf eine Diskussion mit ihm ein. Die Korrespond­enten müssen warten, einige kochen vor Wut. Noch lange danach erinnert sich Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck: „Böll hatte diese Fähigkeit, die ich selten bei sogenannte­n großen Leuten wiedergefu­nden habe: sich auf etwas Kleines einzulasse­n.“

Den Großen dagegen begegnete Böll zeitlebens mit Misstrauen. Dieser gar nicht so gemütliche oder spaßige Rheinlände­r, geboren heute vor 100 Jahren in Köln, legte sich mit allen an: mit der CDU, den Wirtschaft­sverbänden, der Bundeswehr, dem Springer-Verlag, der katholisch­en Kirche, aber genauso mit der SPD, die er als „mieseste aller Parteien“bezeichnet­e.

Er konnte das nur deshalb, weil er selbst eine Macht war – die Verkörperu­ng des „anderen Deutschlan­ds“. Mitte der 1970er-Jahre wählten ihn führende Meinungsma­cher in einer Umfrage zur einflussre­ichsten westdeutsc­hen Persönlich­keit nach Bundeskanz­ler Helmut Schmidt, dem SPD-Vorsitzend­en Willy Brandt und CSU-Chef Franz Josef Strauß. Jeder kannte es, dieses verwelkte Gesicht mit den hängenden Backen, dem meist etwas geöffneten Mund und den melancholi­schen Augen.

Zwei Jahre nach seinem Tod am 16. Juli 1985 sagte der Schriftste­ller Hans Magnus Enzensberg­er: „Wir haben Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace.“Die Rolle solcher später gegründete­n Organisati­onen füllte Böll in den ersten Jahrzehnte­n der Bundesrepu­blik ganz allein aus.

In seinen Romanen behandelte der gelernte Buchhändle­r alle brisanten Themen der westdeutsc­hen Nachkriegs­gesellscha­ft: die verdrängte Nazi-Vergangenh­eit, das Durchregie­ren der alten Eliten, die Fixierung auf Konsum und Besitz, die Wiederbewa­ffnung, die Doppelmora­l der katholisch­en Kirche. Jedes neue Buch von ihm war ein Bestseller, der die Medien wochenlang beschäftig­te und eine breite gesellscha­ftliche Debatte auslöste.

Böll war zum Beispiel einer der ersten, die in den 50er-Jahren gegen das Verdrängen des Judenmords anschriebe­n. Der Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“(1974, 1975 von Margarethe von Trotta verfilmt), in dem Böll die öffentlich­e Verleumdun­g und Vorverurte­ilung einer unbescholt­enen Frau durch eine Boulevardz­eitung schildert, hat im Zeitalter von „Fake News“und „Shitstorms“noch an Relevanz gewonnen.

 ??  ?? Der Schriftste­ller Heinrich Böll . Am heutigen . Dezember wäre er  Jahre alt geworden. Archiv-Foto: Horst Ossinger
Der Schriftste­ller Heinrich Böll . Am heutigen . Dezember wäre er  Jahre alt geworden. Archiv-Foto: Horst Ossinger

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