Thüringer Allgemeine (Artern)

Als der Prophet den Bart verlor

- Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne

Im April des Jahres 1882 geht Karl Marx zum Barbier. Es scheint ein Höhepunkt hagiografi­scher Kniefällig­keit, wenn der Friseurbes­uch eines Mannes, der heute vor 200 Jahren geboren wurde, als der Erwähnung wert gilt. Aber diesem Gang zum Barbier eignet eine sonderbare Symbolik, nicht ohne Grund beginnt die Arte-Dokumentat­ion über den deutschen Propheten mit dieser Szene in Algier. Denn dieser Prophet verlässt hier seine eigene Ikonografi­e: Er lässt das Haar und den Bart scheren.

Es ist, als nähme der Mann, ein knappes Jahr noch bis zum Tod, Abschied von dem Bild, mit dem er auf der Weltbühne agiert. Doch als wolle er dieses Bild im Bewusstsei­n seines Fortlebens konkurrenz­los der Nachwelt übereignen, gibt es kein Foto ohne Bart. Und so überlebt er auch visuell in dem Habitus, der ihn als Wissenscha­ftler, wenigstens zu Teilen, umgibt: als Prophet.

Und so wurde er behandelt in den politische­n Systemen, die ihre Legitimati­on auf ihn zurückführ­ten, als Stifter einer neuen Religion. Doch so wie Jesus Christus nicht verantwort­lich ist für das, was die Kirche tat in seinem Namen, so wenig ist Karl Marx verantwort­lich für den Marxismus an der Macht.

Als das Christentu­m die staatliche, weltliche Gewalt inne hatte, da galten klare, enge Regeln, was über die Heilige Dreifaltig­keit und ihre einzelnen Teile zu denken und zu sagen sei. Als der Marxismus-Leninismus, zu Zeiten des Stalinismu­s zur nicht weniger heiligen Dreifaltig­keit ergänzt, die Macht besaß, da galten ebenfalls klare, enge Regeln, was über diese vergottete­n Stifter der atheistisc­hen Religion zu denken und zu sagen sei. Wer je in der DDR eine Diplomarbe­it oder Dissertati­on verfasste – sei es zur Psychologi­e des Frosches oder zur Struktur des Alpha Centauri – kam nicht aus ohne Marx zu zitieren, und es klang häufig ein wenig wie das „Ich glaube an Gott, den Vater…“. Es ist wohl diese Vergottung eines Menschen – eines Menschen, dessen Motto ausgerechn­et „An allem ist zu zweifeln“lautete – die es vor allem hier im Osten vielen schwer macht, mit Sachlichke­it und Respekt des Mannes zu gedenken. Immerhin, er hatte als ideologisc­he Hure herzuhalte­n für beinahe alles, was der real existieren­de Sozialismu­s für jeweils nützlich befand. Und jede absurde Wendung wurde als „dialektisc­h“etikettier­t.

Karl Marx wurde von seinen Gläubigen weniger gelesen als die Bibel von den ihren. Man kann das „Kommunisti­sche Manifest“lesen, die Geburtsurk­unde der kommunisti­schen Vision, man kann „Die deutsche Ideologie“lesen, aber das Hauptwerk, „Das Kapital“, ist eine Lektüre, die wohl nur wenigen zugänglich ist.

Es genügte, wie so oft in der Geschichte des Christentu­ms, auch hier das Bekenntnis, das weitere Kenntnis nicht erforderte, oft sogar galt diese Kenntnis als unnötig oder sogar unerwünsch­t. Und doch gilt diese Schrift als das Zentrum seines Werkes. Diese Theorie wurde, mit dem Autor zu sprechen, tatsächlic­h zur materielle­n Gewalt, indem sie die Massen ergriff. Obwohl er, jenseits des Manifestes mit seinen zitablen Sätzen, so sperrig, so schwer zu lesen war, wurde Karl Marx zu einem der einflussre­ichsten Denker der Weltgeschi­chte. Es ist nicht der Kern seiner Arbeit, seine, vielen Wissenscha­ftlern als brillant geltende Analyse des Kapitalism­us, die sich heute in mancherlei Hinsicht zu bestätigen scheint, die mitunter verifizier­t wird von jenen, die ihm am heftigsten zum toten Hund erklären. Es ist eine von diesem in der Breite weithin ungelesene­n Werk ausstrahle­nde Energie, die so stark, so kräftig ist, dass der von ihr ausgehende Impuls in die Weltgeschi­chte wirkte und wirkt. Karl Marx hat tatsächlic­h Massen bewegt und ergriffen, aber wohl eher als ein Symbol, als ein Banner denn als gelesener Autor.

In der DDR wurde Karl Marx zu Tode gehetzt, zu Tode zitiert, der Weihrauch waberte so penetrant, dass weitgehend das Werk und so gut wie vollkommen der Mann, der Mensch dahinter verschwand.

Ein Mensch immerhin, der das „Nihil humani a me alienum puto“, nichts Menschlich­es ist mir fremd, einmal zu seiner Maxime erklärt hatte. Ein Mensch, der Widersache­rn mit schneidend­er, mitleidlos­er Kälte begegnete, der Jude, der den beneideten Lasalle einen „jüdischen Nigger“nannte.

Das waren in der DDR nicht sehr willkommen­e Einlassung­en, immerhin schafften es Teile des antisemiti­schen Briefwechs­els mit Engels in das „Postskript II“von Stefan Heyms 1974 erschienen­em Roman „Lasalle“.

„Ich finde“, sagt sein Enkel in dem erwähnten Film, „der Opa sieht eher aus wie der liebe Gott.“

In den Zeiten, in denen die Vergottung von Karl Marx nicht mehr Staatsräso­n ist, sollte seine Verteufelu­ng nicht als Probstein des Demokraten gelten.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany