Als der Prophet den Bart verlor
Im April des Jahres 1882 geht Karl Marx zum Barbier. Es scheint ein Höhepunkt hagiografischer Kniefälligkeit, wenn der Friseurbesuch eines Mannes, der heute vor 200 Jahren geboren wurde, als der Erwähnung wert gilt. Aber diesem Gang zum Barbier eignet eine sonderbare Symbolik, nicht ohne Grund beginnt die Arte-Dokumentation über den deutschen Propheten mit dieser Szene in Algier. Denn dieser Prophet verlässt hier seine eigene Ikonografie: Er lässt das Haar und den Bart scheren.
Es ist, als nähme der Mann, ein knappes Jahr noch bis zum Tod, Abschied von dem Bild, mit dem er auf der Weltbühne agiert. Doch als wolle er dieses Bild im Bewusstsein seines Fortlebens konkurrenzlos der Nachwelt übereignen, gibt es kein Foto ohne Bart. Und so überlebt er auch visuell in dem Habitus, der ihn als Wissenschaftler, wenigstens zu Teilen, umgibt: als Prophet.
Und so wurde er behandelt in den politischen Systemen, die ihre Legitimation auf ihn zurückführten, als Stifter einer neuen Religion. Doch so wie Jesus Christus nicht verantwortlich ist für das, was die Kirche tat in seinem Namen, so wenig ist Karl Marx verantwortlich für den Marxismus an der Macht.
Als das Christentum die staatliche, weltliche Gewalt inne hatte, da galten klare, enge Regeln, was über die Heilige Dreifaltigkeit und ihre einzelnen Teile zu denken und zu sagen sei. Als der Marxismus-Leninismus, zu Zeiten des Stalinismus zur nicht weniger heiligen Dreifaltigkeit ergänzt, die Macht besaß, da galten ebenfalls klare, enge Regeln, was über diese vergotteten Stifter der atheistischen Religion zu denken und zu sagen sei. Wer je in der DDR eine Diplomarbeit oder Dissertation verfasste – sei es zur Psychologie des Frosches oder zur Struktur des Alpha Centauri – kam nicht aus ohne Marx zu zitieren, und es klang häufig ein wenig wie das „Ich glaube an Gott, den Vater…“. Es ist wohl diese Vergottung eines Menschen – eines Menschen, dessen Motto ausgerechnet „An allem ist zu zweifeln“lautete – die es vor allem hier im Osten vielen schwer macht, mit Sachlichkeit und Respekt des Mannes zu gedenken. Immerhin, er hatte als ideologische Hure herzuhalten für beinahe alles, was der real existierende Sozialismus für jeweils nützlich befand. Und jede absurde Wendung wurde als „dialektisch“etikettiert.
Karl Marx wurde von seinen Gläubigen weniger gelesen als die Bibel von den ihren. Man kann das „Kommunistische Manifest“lesen, die Geburtsurkunde der kommunistischen Vision, man kann „Die deutsche Ideologie“lesen, aber das Hauptwerk, „Das Kapital“, ist eine Lektüre, die wohl nur wenigen zugänglich ist.
Es genügte, wie so oft in der Geschichte des Christentums, auch hier das Bekenntnis, das weitere Kenntnis nicht erforderte, oft sogar galt diese Kenntnis als unnötig oder sogar unerwünscht. Und doch gilt diese Schrift als das Zentrum seines Werkes. Diese Theorie wurde, mit dem Autor zu sprechen, tatsächlich zur materiellen Gewalt, indem sie die Massen ergriff. Obwohl er, jenseits des Manifestes mit seinen zitablen Sätzen, so sperrig, so schwer zu lesen war, wurde Karl Marx zu einem der einflussreichsten Denker der Weltgeschichte. Es ist nicht der Kern seiner Arbeit, seine, vielen Wissenschaftlern als brillant geltende Analyse des Kapitalismus, die sich heute in mancherlei Hinsicht zu bestätigen scheint, die mitunter verifiziert wird von jenen, die ihm am heftigsten zum toten Hund erklären. Es ist eine von diesem in der Breite weithin ungelesenen Werk ausstrahlende Energie, die so stark, so kräftig ist, dass der von ihr ausgehende Impuls in die Weltgeschichte wirkte und wirkt. Karl Marx hat tatsächlich Massen bewegt und ergriffen, aber wohl eher als ein Symbol, als ein Banner denn als gelesener Autor.
In der DDR wurde Karl Marx zu Tode gehetzt, zu Tode zitiert, der Weihrauch waberte so penetrant, dass weitgehend das Werk und so gut wie vollkommen der Mann, der Mensch dahinter verschwand.
Ein Mensch immerhin, der das „Nihil humani a me alienum puto“, nichts Menschliches ist mir fremd, einmal zu seiner Maxime erklärt hatte. Ein Mensch, der Widersachern mit schneidender, mitleidloser Kälte begegnete, der Jude, der den beneideten Lasalle einen „jüdischen Nigger“nannte.
Das waren in der DDR nicht sehr willkommene Einlassungen, immerhin schafften es Teile des antisemitischen Briefwechsels mit Engels in das „Postskript II“von Stefan Heyms 1974 erschienenem Roman „Lasalle“.
„Ich finde“, sagt sein Enkel in dem erwähnten Film, „der Opa sieht eher aus wie der liebe Gott.“
In den Zeiten, in denen die Vergottung von Karl Marx nicht mehr Staatsräson ist, sollte seine Verteufelung nicht als Probstein des Demokraten gelten.