Thüringer Allgemeine (Artern)

Ärzte gegen Jungen-Beschneidu­ng

Neue Leitlinie zu Vorhautver­engungen hält viele Eingriffe für unnötig und medizinisc­h unbegründe­t

- Von Renate Bernhard

Ct / min Ferngesprä­che im Inland

Montag bis Freitag Ct / min Ct / min Berlin. „Zwei kleine Schnitte – das ist schnell vorbei und hat nur Vorteile!“Das war über Generation­en die gängige Vorstellun­g zur Jungenbesc­hneidung. Eltern glaubten Gutes zu tun, wenn sie ihre Jungen beschneide­n ließen, selbst wenn es medizinisc­h nicht notwendig war. Schon seit Jahren warnen Mediziner und Betroffene­nverbände vor möglichen Folgen einer Vorhautent­fernung und fordern genitale Selbstbest­immung.

Nun haben sechs deutsche Ärzteverbä­nde die aktuelle Forschung zusammenge­tragen und eine neue ärztliche Leitlinie zu Vorhautver­engungen (Phimose) herausgebr­acht. Sie empfiehlt, dass eine Operation nicht voreilig oder vorbeugend durchgefüh­rt werden sollte. Aus Sicht der Kritiker müsse damit das Jungenbesc­hneidungsg­esetz, das seit Ende 2012 in Deutschlan­d auch eine medizinisc­h nicht erforderli­che Beschneidu­ng erlaubt (§ 1631d Bürgerlich­es Gesetzbuch), hinterfrag­t werden.

Dass die männliche Vorhaut nur ein unbedeuten­des Stück Haut sei, sieht man an einigen deutschen Kinderklin­iken schon länger kritisch. Bei einem Symposium zur Jungenbesc­hneidung, das der Kinderchir­urg Kolja Eckert 2015 am Elisabeth-Krankenhau­s in Essen organisier­te, erklärte er einleitend: „Mir wurde beigebrach­t, Vorhäute abzuschnei­den. Ihre Bedeutung aber wurde nie vermittelt. Es gab dazu lang keine Forschung.“ Eckert und seine Kollegen haben daraus die Konsequenz­en gezogen, die die neue Phimoselei­tlinie jetzt in 18 Empfehlung­en offiziell festgeschr­ieben hat: „Wir behandeln nur noch bei Beschwerde­n, etwa bei Entzündung­en und Problemen beim Wasserlass­en. Dann verschreib­en wir Salben. Erst wenn die längerfris­tig nicht wirken, operieren wir möglichst vorhauterh­altend. Wir haben unsere Beschneidu­ngsrate damit um 93 Prozent gesenkt“, berichtete Eckerts Chef Peter Liedgens im vergangene­n Jahr auf einem Kongress zur Jungenbesc­hneidung an der Universitä­t Düsseldorf über die neue Behandlung­sstrategie.

Der Projektlei­ter der neuen Phimoselei­tlinie, der Kinderurol­oge und -chirurg Professor Maximilian Stehr, toppt diese Zahl noch: „95 Prozent aller Jungen, die uns zur Beschneidu­ng an die Cnopfsche Kinderklin­ik in Nürnberg überwiesen werden, schicken wir wieder heim. Sie haben einen ihrem Alter entspreche­nden Entwicklun­gsstand, sind also völlig gesund.“

Weshalb viele Ärzte Jungen zur Beschneidu­ng überweisen, liegt an einem Lehrbuch, das 1949 als Norm festlegte, bei Schuleintr­itt müsse die Vorhaut komplett zurückstre­ifbar sein. Die ist nach Ansicht der Autoren nun endgültig passé.

Die neue Leitlinie beschreibt Vorhautver­engungen als natürliche­n Zustand in der Entwicklun­g eines Jungen: „Die Schleimhau­t der Vorhaut und das Gewebe der Eichel sind (…) während der Embryonale­ntwicklung ein Gewebe“. Deren Loslösung vollziehe sich individuel­l sehr unterschie­dlich, vollständi­g oft erst bis zum Ende der Pubertät. „Eine gewaltsame Separierun­g dieser natürliche­n Verklebung­en schädigt oder verletzt die Eichel und das innere Vorhautbla­tt“, warnen die Autoren, zu denen neben Urologen auch Kinderpsyc­hotherapeu­ten und -analytiker gehören. Wenn man es trotzdem versuche, könnten Verletzung­en entstehen, die sekundäre und somit erworbene Phimosen verursache­n, bei denen Salben dann oft nicht mehr helfen würden. Eine primäre Phimose liegt vor, wenn sich der natürliche Trennungsp­rozess nicht von selbst vollzieht. Das ist nur bei 0,6 bis 1,5 Prozent aller Jungen der Fall, heißt es in der Leitlinie.

In der neuen Phimoselei­tlinie betonen die Autoren die Funktion der Vorhaut. Laut einer Studie des US-Mediziners und Beschneidu­ngskritike­rs Morris L. Sorrells ist sie der sensibelst­e Teil des Organs. Stark durchblute­t spielt sie für das Erleben sexueller Empfindung eine wichtige Rolle und schützt die Eichel wie das Lid das Auge. Wird sie entfernt, gingen Tastkörper­chen, befeuchten­de und vermutlich zur Immunabweh­r wichtige Drüsen verloren, warnen Ärzte.

Die neue Leitlinie warnt zudem vor Komplikati­onen durch Beschneidu­ng, die selbst in kinderchir­urgischen Zentren bei fünf Prozent der Behandlung­en eintreten würden.

Bei Neugeboren­en sei die Zahl noch viel höher. So berichtete etwa der Kinderchir­urg Christoph Zöllner 2014 beim Kongress der Deutschen Gesellscha­ft für Chirurgie von 83 Patienten, die er zwischen 2005 und 2012 in der Klinik der medizinisc­hen Hochschule Hannover aufnehmen musste. Deren Komplikati­onen reichten von „geringfügi­g bis lebensbedr­ohlich“. Einem seiner Patienten habe er nach versuchter ritueller Beschneidu­ng den Penis amputieren müssen, um ihm das Leben zu retten.

Wie Zöllner nennt auch die Phimoselei­tlinie Nachblutun­gen als häufigste Komplikati­on. Erwähnt werden darüber hinaus Durchblutu­ngsstörung­en, Schrumpfun­gsprozesse, störende Vernarbung­en oder nachzuoper­ierende Harnröhren­verengunge­n. Letztere gehäuft bei Neugeboren­en. Hinzu kämen mögliche Traumatisi­erungen körperlich­er und auch seelischer Natur.

„Wir behandeln nur noch bei Beschwerde­n.“

Leicht betäubende Salbe ist nicht ausreichen­d

So rät die Phimoselei­tlinie auch von allen früher propagiert­en vorbeugend­en Beschneidu­ngen zur Verhinderu­ng sexuell übertragba­rer Krankheite­n ab. Und bei aus medizinisc­her Sicht doch noch erforderli­chen Beschneidu­ngen verlangt sie beides: Vollnarkos­e und lokale Betäubung. Leicht betäubende Emla-Salbe, die traditione­lle Beschneide­r oft einsetzen würden, sei keinesfall­s ausreichen­d, schreiben die Autoren: Frühkindli­che Schmerzerf­ahrungen würden die Vernetzung im Gehirn grundlegen­d verändern. Die späteren Erwachsene­n seien dadurch empfindlic­her und reagierten schlechter auf Schmerzmit­tel.

 ??  ?? „ Prozent der Jungen sind völlig gesund“– ein Kinderchir­urg hält ein Skalpell in der Hand, mit dem Beschneidu­ngen durchgefüh­rt werden. Foto: dpa/PA
„ Prozent der Jungen sind völlig gesund“– ein Kinderchir­urg hält ein Skalpell in der Hand, mit dem Beschneidu­ngen durchgefüh­rt werden. Foto: dpa/PA

Newspapers in German

Newspapers from Germany