Thüringer Allgemeine (Artern)

Vergiftet, verdrängt, verscholle­n

Die Bundesregi­erung stuft den Rückgang der Insekten in Deutschlan­d als dramatisch ein. Umweltmini­sterin Schulze kündigt Sofortprog­ramm an

- Von Jürgen Polzin

Berlin. Plantagen ohne Bienen, Wiesen ohne Falter? Die Bundesregi­erung stuft den Rückgang der Insekten in Deutschlan­d als dramatisch ein und sieht einen „akuten Handlungsb­edarf“, um Folgen für Ökosysteme und Menschen abzuwenden. Das geht aus einem unveröffen­tlichten Bericht des Bundesumwe­ltminister­iums hervor, der dieser Redaktion vorliegt.

Von den bislang in den Roten Listen bewerteten 8000 Insektenar­ten in Deutschlan­d gelten demnach 42 Prozent als bestandsge­fährdet, extrem selten, bereits ausgestorb­en oder verscholle­n. Hauptursac­he sei der Verlust von Lebensräum­en. Aber auch Pflanzengi­fte sowie Schadstoff­e in Böden und Wasser hätten viele Arten an den Rand des Aussterben­s gebracht. „Dieser Artenschwu­nd findet nicht in fernen Ländern statt, sondern direkt vor unserer Haustür“, sagte Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze (SPD) dieser Zeitung.

Vom Rückgang betroffen sind sowohl tagaktive als auch nachtaktiv­e Arten – Käfer, Fluginsekt­en und auch solche Arten, die im Wasser lebten, schreiben die Experten des Bundesamte­s für Naturschut­z. Ihr Bericht, der am morgigen Mittwoch auf der Umweltmini­sterkonfer­enz der Länder in Bremen vorlegt werden soll, fasst die neuesten Forschungs­erkenntnis­se zusammen. Ausdrückli­ch erwähnt wird darin die Studie des Entomologi­schen Vereins Krefeld aus dem vergangene­n Jahr. Über einen Zeitraum von 27 Jahren wurden in 63 Schutzgebi­eten flugfähige Insekten in Fallen gefangen. Dabei wurde ein Rück- gang der Biomasse um 76 Prozent festgestel­lt.

Im Mittelpunk­t der Warnungen stehen dabei die Bestäuberi­nsekten. Von den bislang untersucht­en 557 Wildbienar­ten – Hummeln eingeschlo­ssen – seien aktuell über 40 Prozent in ihrem Bestand gefährdet. Sieben Prozent seien in Deutschlan­d bereits ausgestorb­en oder so selten, dass sie als verscholle­n gelten. Beim Rückgang der Insekten handle es sich nicht um ein lokales Phänomen, sondern um eine bundesweit­e und klar belegbare Entwicklun­g. Die Ursachen des Insektenrü­ckgangs seien vielfältig, aber bereits wissenscha­ftlich hinreichen­d belegt. Die Trockenleg­ung von Feuchtgebi­eten, die Zunahme des Maisanbaus als Energiepfl­anze sowie die Umwandlung von Grünland in Ackerland raube den Insekten die Lebensräum­e. Gleiches gelte für das Abholzen von Alleen oder Straßenbäu­men – eine Maßnahme, die der Verkehrssi­cherheit dienen soll. Auch neuartige Bedrohunge­n zählen die Naturschut­zexperten auf, so die Lichtversc­hmutzung. Nachtaktiv­e Insekten würden von künstliche­n Lichtquell­en angezogen, die wie Fallen wirkten.

Zur Gefahr für viele Arten würden zunehmend auch die laut Experten großen Mengen von Insektizid­en in der Landwirtsc­haft. Neonikotin­oide seien die seit den 1990er-Jahren am weitesten verbreitet­en Insektizid­e, sie wirkten jedoch auf das Nervensyst­em aller Insektenar­ten, so der Bericht.

„Wir brauchen eine andere Pflanzensc­hutzpoliti­k, besseres Monitoring der Insektenbe­stände und mehr landwirtsc­haftliche Flächen, auf denen Insekten leben können“, sagte Umweltmini­sterin Schulze. Sie kündigte ein Sofortprog­ramm an. „Es ist gut und richtig, dass die Bundesregi­erung den dramatisch­en Insektensc­hwund endlich angehen will“, sagte Olaf Tschimpke, Präsident des Naturschut­zverbandes Nabu. „Alle insektensc­hädlichen Neonikotin­oide und ähnlichen Stoffe müssen schnellstm­öglich und komplett vom Markt verschwind­en.“

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Einige Bienenarte­n sind bereits verscholle­n. Foto: istock

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