Die Freunde
Heute beginnt die Fußball-WM in einem Land, auf das Ost-und Westdeutsche unterschiedliche Perspektiven haben
Am Fuße der trutzigen deutschen Niederburg steht Hanna Traut und schwärmt von Russland. Von der Sprache, den Menschen, den verwunschenen Wäldern bei Rjasan, wo die Russischlehrerin als Studentin war. Es ist, sagt sie, so viel verloren gegangen, die Jungen kennen das alles gar nicht.
Wir sind hier, sagt ein Erfurter, weil jetzt alle auf Russland eindreschen. Es werde ja immer nur die West-Sicht dargestellt. Er halte sich auch an russische Quellen im Internet wie die deutschsprachigen „Sputniknews“. Die müssen, schiebt er noch hinterher, auch nicht unbedingt recht haben. Aber eine eigene Meinung will man sich schon bilden dürfen.
Hinter ihm auf der Freilichtbühne schluchzt das Leschenko-Orchester „Schwarze Augen“. Am Stand gibt es gefüllte Bliny und Kwas. Auf der Wiese haben sich russische Familien niedergelassen. Für die vollendete Kulisse fehlen nur noch die Birken.
„Russischer Sonntag“in Kranichfeld. Der Erfurter Veranstaltungsmanager Henri Bibow nennt ihn einen „Feldversuch“, gewöhnlich macht er in Mittelalter. Die Hoffnung, auf solche Weise an ostdeutsche Stimmungslagen anzudocken, kann man eine clevere Geschäftsidee nennen.
Während Außenminister Heiko Maas eine härtere Gangart gegenüber Moskau einfordert, sich die Parteien über den Umgang mit Putins Russland streiten, stört man sich vor allem im deutschen Osten an der Entfremdung. Russland – ein fremdes Land? In den Altbundesländern hatten 30 Prozent diese Frage der Körber-Stiftung bejaht, in Ostdeutschland waren es nur zwölf. Ein Befund, der sich durch alle einschlägigen Erhebungen zieht und der statistisch untermauert, dass der Blick auf die offizielle Russland-Politik hier besonders kritisch, die Forderung nach einem Ende der Eiszeit besonders laut ausfällt.
Überraschen kann daran höchstens, was nach 40 Jahren verordneter deutsch-sowjetischer Freundschaft tatsächlich an ostwärtsgewandter Empathie geblieben ist. Zuweilen scheint es gar, als habe mancher Ostdeutsche seine Liebe zum Russischen erst entdeckt, nachdem sie niemand mehr von ihm abforderte.
„Wenn du das lesen kannst, bist du kein dummer Wessi“. Dieser Postkartenspruch in kyrillischen Buchstaben wurde in den Nachwendejahren gern an Bürowände gepinnt. Dabei: Generationen ostdeutscher Schüler hatten sich stöhnend durch unvollendete Verben gequält, weil Russisch als erste Fremdsprache Pflicht war. Die wenig geliebte Sprache als Selbstbehauptung gegenüber den weltgewandten polyglotten Brüdern und Schwestern aus dem Westen. Es war nicht alles schlecht, noch nicht einmal der Russischunterricht. Und die Kritik am Russland-Bashing als Abgrenzung gegenüber denen da oben. Das russische Thema als Projektionsfläche für ostdeutsches Selbstverständnis.
Ist es so? So ist es wohl auch, aber nicht nur. Unterhalb der verordneten Freundschaft gab es sie ja tatsächlich, die vielen menschlichen Berührungspunkte. Die Einheiten der Westgruppe der sowjetischen Armee in ihren Kasernen hinter hohen Mauern und abgesperrten Übungsplätzen empfanden viele als fremd. Dem einzelnen Soldaten, der bei Großübungen tagelang an einer einsamen Kreuzung abgestellt wurde, steckten mitleidige Dorfbewohner heimlich Wurstbrote zu.
Unter sich sprach man von „den Freunden“. Eine Umschreibung, die zumeist freundlich-ironisch gefärbt war.
In der Schule wurde seufzend Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“durchdekliniert. Zu Hause lasen viele Aitmatow, Granin, Rasputin und fanden zwischen den Zeilen auch einen scharfen Blick auf sozialistische Realitäten, die das eigene Leben genauso betrafen.
Tausende zogen zum Bau der Erdgasleitung ostwärts, so mancher brachte neben dem GenexKonto für gefragte Mangelwaren auch eine sowjetische Ehefrau mit nach Hause.
„Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“– diese jahrzehntelang bemühte Parole geriet bei der DDR-Führung heftig aus der Mode, als Gorbatschow Glasnost und Perestroika ausrief. Um so hoffnungsvoller schauten viele DDR-Bürger ostwärts. Als der Westberliner Regisseur Peter Stein Mitte der 80er-Jahre mit Tschechows „Drei Schwestern“nach Weimar kam, wunderte er sich, welch subversive Kraft ihr Ruf „Nach Moskau!“entfalten konnte. „Gorbi hilf!“riefen Demonstranten, als noch völlig offen war, wie der Herbst 1989 ausgehen würde.
Das alles hinterlässt Spuren und führt heute zu einer schwer greifbaren Gemütslage. Von der schwärmerischen Erinnerung an Samowarabende und Urlaube auf dem Wolgaschiff bis zum Verständnis für Putins Krim-Annexion. Dazwischen liegen unzählige Facetten.
Eindeutig ist in dieser Gemengelage nur dieser Konsens: Die westliche Politik schafft mit Russland ein neues Feindbild und das ist für niemanden gut.
„An Russland muss man einfach glauben“, lautet der Titel eines Buches von Gabriele Krone-Schmalz. Manchmal scheint es fast, als entfalte dieser Satz im deutschen Osten eine fast pragmatische Kraft. Aber welches Russland? Das Putin-Russland? Das Nawalny-Russland? Das Tschechow-Russland?
Als in der Ostukraine der Krieg ausbrach, wunderten sich vor allem im deutschen Westen viele, warum gerade in Ostdeutschland so viel Parteinahme für die russische Seite laut wurde. Müssten nicht gerade hier die Sympathien für das Land der Orangenen Revolution besonders groß sein? Die Ablehnung, hatte damals ein ostdeutscher Leser geschrieben, richte sich nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die Selbstgewissheit des Westens, der undifferenziert und reflexartig das alte Feindbild Russland reproduziert. Daran kann vieles wahr sein.
Raissa Steinigk stammt aus Kiew und lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Thüringen. Sie arbeitet sich an diesem Thema auf ihre Weise ab. Mit einer Handvoll Gleichgesinnter gründete sie das Aktionsbündnis „Zukunft des Donbass“. Aus Krankenhäusern und Praxen sammeln sie medizinische Technik und Medikamente für Krankenhäuser und Weihnachtspäckchen für Kinder in und um Lugansk in der Ostukraine. 2016 schickten sie den ersten Transport, im Mai erst brachte ein Lkw neun Tonnen Babynahrung nach Lugansk, es war der 14. Transport. Ihnen geht es nicht um Schuld oder Nichtschuld, sagt sie. Ihnen geht es um die Menschen, die diesen Krieg nicht gewollt haben und jetzt im Niemandsland vergessen werden.
Es ist ein mühsames Unterfangen, das Geld für die Transporte aufzubringen, die einen weiten Umweg über Russland nehmen müssen. Das Echo bei einfachen Leuten sei gut, sagt sie. In Ostthüringen strickt eine Basisgruppe der Linken Schals und Mützen für den nächsten Weihnachtstransport. Aber von den politischen Spitzen in Thüringen sagt sie, komme nur Schweigen.
Das russische Thema generiert auch viel Ratlosigkeit.
Martin Kummer, Vorsitzender der Russisch-Thüringischen Freundschaftsgesellschaft, klagt mehr Begegnung ein und mehr Erinnerung daran, dass die Sowjetunion es war, die im Kampf gegen Nazideutschland den höchsten Preis zahlte. Die Geschichte sei heute kaum noch gegenwärtig.
Dass die Wirtschaft ein Ende der Russland-Sanktion fordert, sei ja gut und schön, aber hier gehe es um Märkte und Bilanzen. Wir müssen, sagt er, die Menschen wieder mehr zusammenbringen. Städtepartnerschaften, Schulkooperationen, Studentenaustausch – in der Gesellschaft müht man sich darum. Es gibt sie ja noch, solche Begegnungen, aber bei Lichte besehen sind es kaum mehr als Restbestände, klagt Kummer. Lange nicht so lebendig , wie es bei dem Potenzial in Thüringen sein könnte. Mit Suhl und Kaluga und Gera und Pskow gibt es ganze zwei deutsch-russische Städtepartnerschaften, neue sind seit der Wende nicht dazugekommen. Seine Forderung an die Thüringer Politik, endlich aktiv für eine Regionalpartnerschaft mit Tatarstan tätig zu werden, klingt inzwischen wie ein Mantra. Die Hauptstadt Kasan gehört zu den Austragungsorten der WM. Da könnte, schlägt er vor, der Ministerpräsident zu einem Spiel anreisen. Das wäre doch eine starke Geste.
Wenn Kummer von Potenzialen spricht, dürfte er vor allem die Prägungen der Älteren im Blick haben. Und die Jüngeren?
Von den einst 60 000 Thüringer Schülern, die noch vor 15 Jahren Russisch als zweite Fremdsprache lernten, sind heute 18000 geblieben. In vielen Schulen, weiß Elke Kolodzy, müssen Russischlehrer jedes Jahr um einen neuen Sprachkurs ringen. Sie unterrichtet Russisch am Geraer Oberlandgymnasium und berät als Fachberaterin Kollegen. Wo Eltern noch aus ihrer Biografie einen Bezug zur Sprache haben, melden sich auch Kinder. Doch das lässt stetig nach. Die Politik schafft viele ungute Klischees und das merken wir, sagt Elke Kolodzy. Auch sie setzt auf Begegnung. Im vergangenen Jahr erst war sie mit Schülern an der Partnerschule in Rostow am Don. Das waren reiche Erfahrungen, aber sie zu organisieren, sei ungleich komplizierter, als eine Fahrt nach Frankreich oder Großbritannien. Nicht nur wegen der Visa und Versicherungen. Für Fahrten in EU-Länder gibt es viele Förderprogramme, wer mit Schülern nach Russland will, muss ganz schön trommeln, um das finanzieren zu können.
Ab heute rollt in Russland der Ball. Die Hoffnung, dass die Politik in diesen Wochen vor den Stadien bleibt, wäre naiv. Die üblichen Rituale werden auf keiner Seite ausbleiben. Aber es wäre gut, wenn es gelänge, nicht hinter jeder bunten Inszenierung, mit der die Gastgeber sich, ihr Land und den Fußball feiern, Putinsche Propaganda zu wittern. Darauf einen Wodka.