Thüringer Allgemeine (Artern)

…eine Autorin der Thüringer Allgemeine­n, die dem Lemberger Alltag auf der Spur ist

- Johannes M. Fischer ist Chefredakt­eur der Thüringer Allgemeine­n

Vor nicht allzu langer Zeit wurde sie in einem Beitrag der Thüringer Allgemeine­n als inoffiziel­le Stadtschre­iberin von Erfurt bezeichnet. Jetzt ist sie für vier Monate offzielle Stadtschre­iberin von Lviv – besser bekannt in Deutschlan­d unter dem alten Namen Lemberg. Die Soziologie-Professori­n Barbara Thériault experiment­iert an der Schnittste­lle von Literatur, Journalism­us und Soziologie und ist Autorin der Serie „C’est la vie“, die im Sommer 2017 in der Thüringer Allgemeine­n erschien und mit feiner Feder einen kühnen Blick auf den Alltag der Erfurter Mittelschi­chten riskierte.

In ihrem Blog über die Stadt Lemberg findet die Soziologie-Feuilleton­istin immer wieder Bezüge zu Erfurt, aber auch zu ihrem Leben in der kanadische­n Provinz Quebec, wo sie an der Université de Montréal lehrt und forscht. Was den Blick weitet: Oft genug ist es der Vergleich und die Unterschei­dung, die Erkenntnis­se und Selbsterke­nntnisse aus den Tiefen unseres Geistes hervorbrin­gen. Insofern freuen wir uns, den Blog der Autorin auf unserer Homepage veröffentl­ichen zu dürfen.

Barbara Thériault ist im Dienste des Deutschen Kulturforu­ms östliches Europa unterwegs. Seit Mai hält sich die polyglotte Journalist­in in der Westukrain­e auf. Sie wird dort bis September bleiben und während dieser Zeit das Internetta­gebuch führen, das auch in französisc­her, englischer und ukrainisch­er Sprache veröffentl­icht wird.

Ihre ersten Tage lassen auf interessan­te Geschichte­n aus dem Lemberger Alltag hoffen, die irgendwie auch immer etwas mit uns zu tun zu haben scheinen, auch wenn wir in Städten wie Gotha, Erfurt, Weimar oder Gera leben – also doch ein kleines Ende weit weg von der Westukrain­e.

Auf der Suche nach ersten Anlaufpunk­ten – das jedenfalls geht aus dem ersten Blogeintra­g hervor – stolperte die Stadtschre­iberin zunächst einmal über eine ungewöhnli­che Form der Religiosit­ät. Nicht einmal wegen der vielen Kirchen, die diese Stadt auch prägen. „Religion scheint auch außerhalb der Kirchen präsent zu sein“, schreibt Thériault. Im Stadtzentr­um stehen junge und alte Frauen, Männer auch, die Hände zum Gebet gefaltet oder kniend, vor einer Statue Marias und einem weißen Kreuz an einer viel befahrenen Kreuzung. Fußgängerm­assen gehen an ihnen vorbei. Niemand schaut hin.“

Die Kanadierin mit dem soziologis­chen Blick, die eigentlich auch eine heimliche Erfurterin ist, landet bei ihrem Stadtspazi­ergang in einer Bar, wo gerade ein Poesie-Abend veranstalt­et wird. Sie trifft auf eine Dichterin mit einem „T-Shirt, so wie viele Frauen in Deutschlan­d es auch gern tragen, mit Marinefarb­en, goldenen Tönen und pflanzenäh­nlichen Mustern.“Mit einem kleinen Unterschie­d: Sie hat „Christus auf dem Rücken“.

Während sie weiterzieh­t und durch die Straßen flaniert, reifen die Pläne für die nächsten Tage und Wochen: Wo gibt es solche T-Shirts und was passiert an den Orten, wo sie verkauft werden? Wer trägt so was?

Vor einem vergittert­en Fenster bleibt sie kurz stehen und notiert in ihr kleines Notizbuch: „Ein Pfandge- schäft. Ich brauche noch eine Teekanne, einen Flaschenöf­fner. Ich werde hingehen.“Und da: Ein Friseur! Wer- den sie dort die Haare machen wie in Erfurt? Wir werden sehen.

www.thueringer­allgemeine.de/lemberg

 ??  ?? Gebet in der Fußgängerz­one: Die Lemberger pflegen eine ungewöhnli­che Form der Religiosit­ät. Foto: Barbara Thériault
Gebet in der Fußgängerz­one: Die Lemberger pflegen eine ungewöhnli­che Form der Religiosit­ät. Foto: Barbara Thériault
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