Fußball, Farben, Vaterland
Morgen ist es wieder soweit. Deutschland! Wir werden das erste Spiel der Deutschen beim Italiener verfolgen. Und wehe, der ruft für die Falschen. Aber das werden sie nicht. Schon aus geschäftlichem Interesse, außerdem sind sie selbst gar nicht dabei. Das ist im Übrigen ein merkwürdiger Umstand, der mir ursprünglich gar nicht bekannt war. Ich habe beim Schreiben dieser Fachkolumne im WM-Spielplan gesucht, wann die Italiener spielen und das dann irritiert im Netz überprüft – sie sind wirklich nicht dabei. Vermutlich bin ich der Angehörige einer Minderheit, die das nicht weiß.
Ich weiß, dass John Degenkolb womöglich nicht zur Tour de France und Marcel Kittel seiner Form hinterher fährt, aber ich weiß wenig über die Bundesliga, einige Kenntnisnahme des Totalbankrotts beim Erfurter Fußball ließ sich nicht vermeiden. Und doch werde ich in den nächsten Wochen viel, viel Fußball sehen und wenn es ein Abseits gibt, wird der Kommentator mir erklären, warum der Schiedsrichter gepfiffen hat. Aber ich werde wohl nächstens auch über Fußball reden, mit null Ahnung und viel Anteilnahme.
Was ist das für eine Macht, die Menschen in den Sog des Fußballs zieht, selbst die, die sich eigentlich nicht für Fußball interessieren?
Es ist der Grundgedanke dieses Spieles, das durch seine Anlage kollektiv ist und Kollektive mobilisiert. In fast allen Dörfern fast aller Länder gibt es eine Mannschaft, die mit Leidenschaft und Alkohol gegen die Truppen der umliegenden Flecken kämpft. Und wenn sie gut sind, kommen sie in die Kreisliga, in die Landesliga und so weiter und so höher. Bejubelt und betrauert, verehrt und verflucht von den Einwohnern des Ortes, des Kreises, der Region, des Landes. Die einen Spieler gehen am Montag nach dem Match in die Firma, weil sie die Raten für das Auto bezahlen müssen, die anderen, es sind deutlich weniger, verdienen in ihrer Fußball-Firma so, dass manche fast ein Monatsgehalt für einen Luxuswagen hinblättern müssen. Und am Ende des Wettbewerbes aller Dörfer dieser Welt stehen zwei Nationalmannschaften im Finale der Weltmeisterschaft.
So bildet Fußball die Pyramide der Gesellschaft ab: Theoretisch kann jeder es nach oben schaffen, und in jeder Klasse können einige vom Aufstieg träumen oder den Abstieg fürchten. Wie in der Gesellschaft können und wollen alle mitreden – auch wenn nur die Wenigsten wirklich etwas davon verstehen. Es ist schön, wenn man ein Abseits erkennt, aber man muss es nicht. Es gibt verschiedene Ebenen von Kenntnis aber zum Verständnis reicht die Hauptschule: Zwei Tore, ein Ball. Jeder kann Taktik schwadronieren, des Dorfklubs wie der Nationalmannschaft. Jeder könnte es immer besser und muss es nie beweisen. So schenkt uns der Fußball die größten Emotionen zum kleinsten Preis. Denn er ist ein bisschen wie das wirkliche Leben – aber wir sind ihm nicht ausgeliefert. Und wie in der Wirklichkeit gewinnt nicht immer der Bessere. Was wir im Übrigen auch nicht wollen: Wir wollen den Sieg der Unsrigen.
Und deshalb jubeln wir und schwenken Fahnen. Wenn das gut laufen sollte, dann wird es viel SchwarzRot-Gold. Und seit dem Sommermärchen 2006 hat das eine Leichtigkeit, die gleichsam der deutschen Geschichte abgetrotzt wurde, mit Fröhlichkeit, mit Lebensfreude. In diesen 12 (!) Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht jeder, der eine deutsche Fahne jubelnd schwenkt, der Meinung ist, Deutschland solle über allem in der Welt sein. Er ist lediglich der Meinung, das deutsche Team solle gegen alle Welt gewinnen – was ja im Übrigen der Grundgedanke jeglichen Sportes ist: Alle kämpfen und einer gewinnt. Oder vielmehr: eine, die Nationalmannschaft ist weiblich, die große Mutter. Dieser blaue Himmel über Schwarz-Rot-Gold hat sich in den letzten Jahren wieder etwas eingetrübt. Ein leider in Thüringen ansässiger Mensch, dem dieser ganze Erinnerungsscheiß nicht passt und der keine Denkmäler der Schande wünscht, schwenkte in einer Talkshow eine kleine deutsche Fahne; viele Menschen, die auf Demonstrationen hasserfüllt „Merkel muss weg!“brüllen und „Lügenpresse!“und „Wer Deutschland nicht liebt soll Deutschland verlassen!“schwenken sie in groß. Und? Ist jetzt jeder, der die deutschen Farben an seinem Auto oder aus seinem Fenster flattern lässt wie die? Sollen wir uns die Freude verderben lassen von denen? Kurt Tucholsky ließ sich, wie er schrieb, die Liebe zu Deutschland auch nicht verderben von dem, was er „Deutschland“nannte. Was bedeutet, ich lasse mir die Freude an Fahnen beim Fußball nicht verleiden von Fahnen beim Pöbeln.
Im Übrigen werden wir die schon wegputzen.