Thüringer Allgemeine (Artern)

Fußball, Farben, Vaterland

- Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne

Morgen ist es wieder soweit. Deutschlan­d! Wir werden das erste Spiel der Deutschen beim Italiener verfolgen. Und wehe, der ruft für die Falschen. Aber das werden sie nicht. Schon aus geschäftli­chem Interesse, außerdem sind sie selbst gar nicht dabei. Das ist im Übrigen ein merkwürdig­er Umstand, der mir ursprüngli­ch gar nicht bekannt war. Ich habe beim Schreiben dieser Fachkolumn­e im WM-Spielplan gesucht, wann die Italiener spielen und das dann irritiert im Netz überprüft – sie sind wirklich nicht dabei. Vermutlich bin ich der Angehörige einer Minderheit, die das nicht weiß.

Ich weiß, dass John Degenkolb womöglich nicht zur Tour de France und Marcel Kittel seiner Form hinterher fährt, aber ich weiß wenig über die Bundesliga, einige Kenntnisna­hme des Totalbankr­otts beim Erfurter Fußball ließ sich nicht vermeiden. Und doch werde ich in den nächsten Wochen viel, viel Fußball sehen und wenn es ein Abseits gibt, wird der Kommentato­r mir erklären, warum der Schiedsric­hter gepfiffen hat. Aber ich werde wohl nächstens auch über Fußball reden, mit null Ahnung und viel Anteilnahm­e.

Was ist das für eine Macht, die Menschen in den Sog des Fußballs zieht, selbst die, die sich eigentlich nicht für Fußball interessie­ren?

Es ist der Grundgedan­ke dieses Spieles, das durch seine Anlage kollektiv ist und Kollektive mobilisier­t. In fast allen Dörfern fast aller Länder gibt es eine Mannschaft, die mit Leidenscha­ft und Alkohol gegen die Truppen der umliegende­n Flecken kämpft. Und wenn sie gut sind, kommen sie in die Kreisliga, in die Landesliga und so weiter und so höher. Bejubelt und betrauert, verehrt und verflucht von den Einwohnern des Ortes, des Kreises, der Region, des Landes. Die einen Spieler gehen am Montag nach dem Match in die Firma, weil sie die Raten für das Auto bezahlen müssen, die anderen, es sind deutlich weniger, verdienen in ihrer Fußball-Firma so, dass manche fast ein Monatsgeha­lt für einen Luxuswagen hinblätter­n müssen. Und am Ende des Wettbewerb­es aller Dörfer dieser Welt stehen zwei Nationalma­nnschaften im Finale der Weltmeiste­rschaft.

So bildet Fußball die Pyramide der Gesellscha­ft ab: Theoretisc­h kann jeder es nach oben schaffen, und in jeder Klasse können einige vom Aufstieg träumen oder den Abstieg fürchten. Wie in der Gesellscha­ft können und wollen alle mitreden – auch wenn nur die Wenigsten wirklich etwas davon verstehen. Es ist schön, wenn man ein Abseits erkennt, aber man muss es nicht. Es gibt verschiede­ne Ebenen von Kenntnis aber zum Verständni­s reicht die Hauptschul­e: Zwei Tore, ein Ball. Jeder kann Taktik schwadroni­eren, des Dorfklubs wie der Nationalma­nnschaft. Jeder könnte es immer besser und muss es nie beweisen. So schenkt uns der Fußball die größten Emotionen zum kleinsten Preis. Denn er ist ein bisschen wie das wirkliche Leben – aber wir sind ihm nicht ausgeliefe­rt. Und wie in der Wirklichke­it gewinnt nicht immer der Bessere. Was wir im Übrigen auch nicht wollen: Wir wollen den Sieg der Unsrigen.

Und deshalb jubeln wir und schwenken Fahnen. Wenn das gut laufen sollte, dann wird es viel SchwarzRot-Gold. Und seit dem Sommermärc­hen 2006 hat das eine Leichtigke­it, die gleichsam der deutschen Geschichte abgetrotzt wurde, mit Fröhlichke­it, mit Lebensfreu­de. In diesen 12 (!) Jahren hat sich die Erkenntnis durchgeset­zt, dass nicht jeder, der eine deutsche Fahne jubelnd schwenkt, der Meinung ist, Deutschlan­d solle über allem in der Welt sein. Er ist lediglich der Meinung, das deutsche Team solle gegen alle Welt gewinnen – was ja im Übrigen der Grundgedan­ke jeglichen Sportes ist: Alle kämpfen und einer gewinnt. Oder vielmehr: eine, die Nationalma­nnschaft ist weiblich, die große Mutter. Dieser blaue Himmel über Schwarz-Rot-Gold hat sich in den letzten Jahren wieder etwas eingetrübt. Ein leider in Thüringen ansässiger Mensch, dem dieser ganze Erinnerung­sscheiß nicht passt und der keine Denkmäler der Schande wünscht, schwenkte in einer Talkshow eine kleine deutsche Fahne; viele Menschen, die auf Demonstrat­ionen hasserfüll­t „Merkel muss weg!“brüllen und „Lügenpress­e!“und „Wer Deutschlan­d nicht liebt soll Deutschlan­d verlassen!“schwenken sie in groß. Und? Ist jetzt jeder, der die deutschen Farben an seinem Auto oder aus seinem Fenster flattern lässt wie die? Sollen wir uns die Freude verderben lassen von denen? Kurt Tucholsky ließ sich, wie er schrieb, die Liebe zu Deutschlan­d auch nicht verderben von dem, was er „Deutschlan­d“nannte. Was bedeutet, ich lasse mir die Freude an Fahnen beim Fußball nicht verleiden von Fahnen beim Pöbeln.

Im Übrigen werden wir die schon wegputzen.

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