War es ein Aufstand? Oder ein inszenierter Putsch gegen Ulbricht?
Wie reif sind Jugendliche? Ein Leser erinnert sich an den 17. Juni 1953, den er als junger Student in Wolfen und Bitterfeld erlebt hatte
Was versprechen sich die Parteien, die für die Wahl ab 16 eintreten? Mehr Stimmen? Für mich ist das ein Teufelskreis, der herbeigeredet wird. Auf einmal sollen 16-Jährige reif genug sein, als Wähler handeln zu können, andererseits liest man oder hört es immer wieder, dass 18-, 19- und 20-Jährige bei begangenen Straftaten nicht reif genug sind, um nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt zu werden. Bestenfalls werden sie nach dem Jugendstrafrecht verurteilt.
Für mich ist das ein Widerspruch an sich. Wie erklären mir diejenigen das, die für das Wahlrecht ab 16 eintreten? Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es auch 16-Jährige gibt, die über die entsprechende politische Reife verfügen.
Kurt Franke, Erfurt Am 17. Juni 1953 befand ich mich als Chemiestudent der Universität Jena zur Ableistung eines Praktikums im VEB Farbenfabrik Wolfen. Ich bemerkte, dass Arbeiter manchmal in Grüppchen zusammenstanden, bei meinem Näherkommen aber auseinander liefen. Nach dem Frühstück gab der FDGB-Vertrauensmann bekannt, dass vor dem Verwaltungsgebäude eine Versammlung stattfinden würde. Dort hatte sich schon eine große Ansammlung gebildet, es ging mehr oder weniger laut zu. Sollte es einen Aufstand gegen die Grotewohl-Regierung werden, oder war es gar eine von höheren SED-Kreisen inszenierte Angelegenheit gegen Ulbricht?
Dann wurde ein Auto herangefahren, ein Genosse kletterte auf das Fahrzeug und versuchte, zur Auflösung der Versammlung aufzufordern. Das Fahrzeug wurde hin- und hergewackelt, bis der Mann unter Gejohle heruntersteigen musste.
Ein Arbeiter verkündete politische Forderungen, z. B. nach Senkung der Arbeitsnormen und freien Wahlen. Dann forderte er alle auf, zur Filmfabrik zu marschieren, um sich mit deren Werktätigen zu vereinen. Das Betriebstor war weit geöffnet, keiner der Wachleute hatte mehr ein Parteiabzeichen an der Jacke! Unterwegs wurden krachend Transparente mit SEDLosungen heruntergerissen.
Vor dem Verwaltungsgebäude des VEB Filmfabrik Agfa Wolfen waren schon viele Arbeiter versammelt, welche die Neuankömmlinge mit lautem Beifall begrüßten. Auf dem Balkon erschienen Männer, von denen einer ebenfalls politische Forderungen vortrug. Er wies aber auch ernsthaft darauf hin, dass es keinerlei Gewalttätigkeit geben dürfe und gab dann bekannt, dass alle sich nunmehr zu einer Kundgebung ins rund 6 Kilometer entfernte Bitterfeld begeben sollen.
Wir Studenten konnten uns immer noch keinen Vers auf das Geschehen machen.
Im Strom der Masse gelangten wir auf einen riesengroßen, von Arbeitern schon ziemlich gefüllten Platz. Auch hier gab es Ansprachen und die Verkündung politischer Forderungen. Zwischendurch gab es Geschrei, als ein Mann von Leuten in der Menge als Spitzel erkannt worden ist. Die Streikleitung verkündete, dass man sich durch Tätlichkeiten die Hände nicht schmutzig machen wolle. Es wurde aufgerufen, zur Haftanstalt zu marschieren, um politische Gefangene zu befreien. Abschließend wurde der allgemeine Streik ausgerufen.
Es war ein heißer Tag. Auf dem Rückweg nach Wolfen veranlasste uns großer Durst, in eine Gastwirtschaft einzukehren. Auch hier war viel Gedränge und lautes Reden. Als man dann noch das Deutschlandlied anstimmte, hielten wir es für an der Zeit, das Lokal besser wieder zu verlassen.
Als Praktikant folgte ich gern der Streikanweisung, ging nach dem späten Mittagessen im Betrieb ins Schwimmbad und anschließend ins Kino. Am Abend begab ich mich aus Neugier zur Farbenfabrik. Ich hörte, wie über den Betriebsfunk die Schlagerparade des Westberliner Rias ertönte. Dann meinte ich, das Grummeln von Kettenfahrzeugen zu vernehmen und trat vorsichtshalber den Heimweg an.
Am nächsten Morgen standen zwei sowjetische Panzer vor dem Betriebseingang. Ich erfuhr, dass der Ausnahmezustand verhängt und die Streikleitung verhaftet worden sei. Der Betriebsfunk war auf DDR-Sender umgeschaltet. Er verbreitete, dass so gut wie überall im Lande die Werktätigen ihre Arbeit wieder aufgenommen hätten. Dies war eindeutig gelogen, denn die meisten Werktätigen waren zwar an ihrem Arbeitsplatz, aber arbeiteten nicht, leisteten sozusagen passiven Widerstand.
Wegen des Ausnahmezustands waren Ansammlungen von Personen strengstens verboten. Bei Schichtwechsel waren aber Ansammlungen an den Werkstoren der Farbenfabrik unvermeidbar. Das war für die Sowjetsoldaten Anlass, über die Köpfe hinweg Schüsse abzufeuern. Dies sorgte für große Angst.
Da seitens der Regierung ein neuer Kurs verkündet und Verbesserungen in der Versorgung versprochen wurden, bei gleichzeitiger Androhung von Lohnsperren, zog Normalität ein.
Am Praktikumsende mussten wir uns bei der FDJ-Leitung abmelden und wurden nach der Teilnahme am Streik befragt. Wohl oder übel machte ich wahrheitsgemäße Angaben. Sie wurden zu Protokoll genommen, in einen Briefumschlag gepackt und mir zur Abgabe beim Prorektorat der Uni Jena übergeben. Letzteres tat ich natürlich nicht, sondern bewahrte es als quasi-amtliche Bescheinigung der Teilnahme am Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 auf.
Hans Anhöck, Waltershausen
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An Spitzeln nicht die Hände schmutzig machen