Thüringer Allgemeine (Artern)

Auf den Spuren des „Huh!“

Island war die Überraschu­ng der EM 2016. Sonnabend startet das Team in die WM. Ein Besuch bei Trainer Hallgrímss­on

- Von Christine Holthoff

Heimaey. Wer den Erfolg von Islands Fußball-Nationalma­nnschaft verstehen will, braucht einen starken Magen. Seit zweieinhal­b Stunden kämpft sich Herjólfur nun schon durch den Atlantik. Wind und Wellen lassen die kleine Autofähre so heftig schwanken, dass die Passagiere abwechseln­d Meer oder Himmel durch die nassen Scheiben sehen. Die meisten Fahrgäste sind längst unter Deck verschwund­en. Dem Magen zuliebe. Heimir Hallgrímss­on gehört nicht zu ihnen.

Für Islands Nationaltr­ainer ist die dreistündi­ge Überfahrt nach Heimaey Routine. Die VulkanInse­l vor der Südküste Islands ist sein Zuhause. Hier ist er geboren, aufgewachs­en, hier hat er bei Íþróttaban­dalag Vestmannae­yja das Kicken gelernt. Schon mit 17 Jahren merkte er aber, dass er anderes noch viel lieber mag: andere trainieren.

Geprägt von großem Unglück

Doch der Fußball führt Hallgrímss­on nicht nach Hause. Die meiste Arbeit als Nationaltr­ainer spielt sich schließlic­h in Reykjavík ab, wo der 51-Jährige ebenfalls eine Wohnung hat. Hallgrímss­on ist unterwegs zu seinem zweiten Job. Trotz seiner Beförderun­g zum alleinigen Cheftraine­r vor zwei Jahren arbeitet der Zahnarzt weiter in seiner Praxis. „Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten. Das entspannt mich.“

Entspannun­g braucht Hallgrímss­on in den letzten Jahren immer dringender. Seit Islands furiosem Auftritt bei der EM 2016 ist der Hype um das Team nicht abgeebbt. Halb Europa verliebte sich damals in das Überraschu­ngsteam aus dem Norden, in seinen Kampfgeist und die leidenscha­ftlichen Fans, deren Wikingersc­hlachtruf berühmt wurde. Plötzlich feierten Kinder auf deutschen Bolzplätze­n ihre Tore mit einem „Huh!“.

Und Island legte nach, schaffte zum ersten Mal in seiner Geschichte die WM-Qualifikat­ion.

Die Erklärung für diesen Erfolg findet man auf Heimaey. Fünf Minuten Autofahrt vom Hafen entfernt liegt das Sportzentr­um, 1500 Zuschauer fasst das Stadion Hásteinvöl­lur – Heimaey hat 4300 Einwohner. Viel Geld ist in den vergangene­n 20 Jahren in den Sport investiert worden. Doch dass Islands Fußballer dank Hallen und Kunstrasen nun endlich auch im Winter trainieren können, reicht allein nicht. Entscheide­nd ist etwas anderes: die Mentalität.

Auf Heimaey war die einst besonders nötig. Am 23. Januar 1973, Hallgrímss­on war fünf Jahre alt, spuckte die Insel Feuer. Wenige hundert Meter vom Stadtkern entfernt bildete sich ohne Vorwarnung ein neuer Vulkan. Der Eldfell begrub Häuser unter Asche, Lava strömte Richtung Hafen. Dass keiner der 5000 Einwohner starb, lag an einem glückliche­n Zufall. In der Nacht zuvor war das Wetter so schlecht, dass die Fischer nicht aufs Meer hinausfahr­en konnten. Alle Kutter lagen im Hafen – und boten genug Schutz.

Eines weiß Hallgrímss­on seitdem: Menschen können große Kräfte entwickeln, wenn sie zusammenha­lten. Wer Lava davon abhalten kann, den einzigen Hafen zu zerstören, der kann auch andere scheinbar übermächti­ge Gegner bezwingen.

Starkult findet auf Island kaum Platz. Wenn Heimir Hallgrímss­on durch die Sporthalle­n läuft, ist er nicht der Nationaltr­ainer. Er ist Nachbar, Freund, Verwandter. Ein kurzer Plausch hier, Abklatsche­n mit den Nachwuchsk­ickern da. Man muss sich das einmal klar machen: Der Nationaltr­ainer steht in der Halle, und niemanden interessie­rt’s. „Warum auch? Sie spielen Fußball“, sagt Hallgrímss­on. „Der Einzelne ist nicht so wichtig.“Es zählt die Gemeinscha­ft. „Der Teamspirit ist unsere stärkste Botschaft an die Welt.“

Plötzlich läuft ein Junge an Hallgrímss­on vorbei. Rückennumm­er 10. Messi. „Sofort ausziehen!“Hallgrímss­on lacht. Argentinie­n ist an diesem Sonnabend (15 Uhr/ZDF) Islands erster Gegner bei dieser WM. „Es ist irgendwie romantisch, Argentinie­n in der Gruppe zu haben. Du spielst gegen die besten Fußballer der Welt“, schwärmt der Trainer.

Ein bisschen nervös sei er trotzdem. Kroatien und Nigeria sind die weiteren Gruppengeg­ner. „Es ist gut für uns, in einer schwierige­n Gruppe zu sein. Dadurch können wir uns weiterentw­ickeln“, glaubt Hallgrímss­on. „Danach kann es ja nicht mehr schlimmer werden.“Danach?

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Im Stadion Hásteinvöl­lur begann die Erfolgsges­chichte von Islands Nationaltr­ainer Heimir Hallgrímss­on. Foto: Holthoff

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