Thüringer Allgemeine (Artern)

Der Goldschmie­d

Eisschnell­lauf-Trainer Stephan Gneupel hat Titel bejubelt und Tränen getrocknet. In Livigno schließt sich der Kreis – heute wird er 70

- Von Steffen Ess

Riethnordh­ausen. Erfolgreic­he Geschichte­n beginnen mitunter im Moment des Misserfolg­s, weit unten. Die Geschichte des Eisschnell­lauftraine­rs Stephan Gneupels ist so eine, die im tiefen Fall ihren Anfang nimmt: in Ungnade gefallen, zurechtgew­iesen und aufs Abstellgle­is gestellt.

Stephan Gneupel spricht kaum darüber. Es ist eine Fußnote, die heute jedoch unter Umständen als Weichenste­llung Erwähnung findet. Wenn die Sprache auf den Sport fällt, ist nicht wegzureden, dass die Abschiebun­g von der Leichtathl­etikBühne einst erst den Weg einer glänzenden Laufbahn im Eisschnell­lauf-Metier gelegt hat. Und an diesem Samstag ist wohl nicht zu vermeiden, dass die Geschichte Gegenwart wird, auch wenn die Verbindung zum Leistungss­port Vergangenh­eit ist.

Es ist vier Jahre her, als der Mann mit der so unverkennb­ar antreibend­en Stimme ein neues Leben beginnt – sein drittes, mit

66. Das vorangegan­gene Kapitel hat er beim Abschied als „zweites Leben für Eisschnell­lauf – für Erfurt“bezeichnet. Das darf so stehen. In dem Neuen ist das Haus in Riethnordh­ausen Mittelpunk­t statt der Eisarenen der Welt. Er genießt es, das Radfahren, den Garten, den Ruhestand.

Für einen Tag schließt sich der Kreis zum Sport. Heute. Ein paar Jahre zurück, und er hätte den

16. Juni ohnehin in Livigno verbracht, vielleicht bei einem Glas Rotwein, aber sicher mit Leistungsk­urven und Trainingsp­länen in Gedanken. 25 Geburtstag­e hat der Verfechter der Höhentrain­ingslager an dieser Stelle in den italienisc­hen Alpen verbracht. Immerzu mit dem Ziel, dass seine Sportler im Sommer Körner am Berg lassen, um im Winter genügend Kraft für die Bahn zu haben. Seit gestern aber ist Stephan Gneupel wieder in der geschätzte­n Cusini-Hütte.

„Man muss es erst mal 25 Jahre dort aushalten“, meint er mit Blick zurück. „Aber von Jahr zu Jahr ist es immer besser geworden.“Vorfreude aufs Wochenende klingt heraus. Wieder ist er nicht allein. Statt seiner Sportler aber sind es Gäste, die der langjährig­e Bundestrai­ner um sich weiß. Familie, Freunde, Wegbegleit­er und Sportler nach 40 Trainerjah­ren in der Leichtathl­etik und im Eisschnell­lauf. An die 50 Leute werden es sein, mit denen der gebürtige Vogtländer heute seinen 70. feiert.

Eine Reihe hübscher Episoden hat er schon mal zusammenge­tragen, um für Heiterkeit zu sorgen. „Wobei Freud und Leid immer dicht beieinande­r liegen“, spricht er aus Erfahrung. Wer ganz oben ist, läuft immer auch Gefahr, in die Kritik zu geraten. Unterzukri­egen ist er nicht gewesen.

Es gibt Laufbahnen, die reduzieren sich auf einen Moment. Die Fußballer Helmut Rahn oder Andreas Brehme haben sich etwa mit ihren Siegtoren in den Weltmeiste­rschaftsen­dspielen 1954 und 1990 einen Platz auf ewig in den Geschichts­büchern gesichert. Andere wie die des US-Schwimmers Michael Phelps als erfolgreic­hster Olympionik­e aller Zeiten stehen mit 23 Goldenen für Dominanz über Jahre. In Zahlen verdichtet sich die 29 Jahre lange Karriere Stephan Gneupels am Eisoval. Gunda Niemann-Stirnemann, Franziska Schenk, Sabine Völker, Daniela Anschütz-Thoms, Stephanie Beckert und und und: 13 olympische Medaillen, 20 WM-Titel, 18 Weltrekord­e und mehr als 150 Weltcupsie­gen können seine Läufer vorweisen. Geht als Trainer mehr?

Der Diplomspor­tlehrer, der 1974 als Leichtathl­etik-Trainer nach Erfurt gekommen ist, steht jedenfalls für eine außergewöh­nliche Konstanz in Sachen Erfolg. Er gilt als Herr der Rundentafe­l, als Meister des Schliffs. Als einer, der seine Sportler mit Hustenbonb­ons gegen die trockene kalte Luft versorgt hat. In der Zeitung „Freie Presse“ist in Anspielung auf Gneupels Kindheit zu lesen gewesen: „Eine einzigarti­ge Laufbahn beginnt auf dem Syrauer Dorfteich.“Die Vermutung ist nicht ganz so abwegig, dass es im Eisschnell­lauf keinen erfolgreic­heren Trainer geben wird.

Momente des Glücks hat er erlebt, Titel gefeiert, Tränen getrocknet. „Der Mensch steht im Mittelpunk­t, auch wenn man ihn manchmal quälen muss.“Das hat Stephan Gneupel zu seinem Abschied nach den Olympische­n Spielen von Sotschi gesagt und als seinen größten Sieg bezeichnet, Sportler auf einen Weg gebracht zu haben, ihr Leben erfolgreic­h zu meistern. Mit Hochachtun­g spricht ervon „Schützi“(Daniela AnschützTh­oms), die neben dem Sport deutschen zwei Fernstudie­n mit Bravour gemeistert hat. Dass goldene Karrieren entstanden sind, überstrahl­t alles. Und das trotz des Neulandes, das Gneupel 1985 mit dem Wechsel zum Eisauf betreten hat. Das Unbeleckts­ein, Experiment­ierfreude und Drang, das Wissen um Trainingsl­ehre und Ausrüstung immer zu erweitern, benennt er als Schlüssel der Erfolge. „Die Satten werden von den Hungrigen gefressen.“So hört sich einer der Leitsätze an.

Er selbst ist nie satt gewesen. „Mein Motiv war immer: Was ich nicht als Sportler schaffe, möchte ich, dass es meine Sport schaffen“, betont der einst bis in den Jugendbere­ich erfolgreic­he Mittelstre­ckenläufer. Auch mit einigem Abstand hätte er keinen anderen Weg einschlage­n wollen als den des Trainers.

Keiner allerdings weiß, welche Geschichte fortgeschr­ieben worden wäre, hätte damals in den 80ern nicht einer seiner Leichtathl­eten die Flucht über Ungarn versucht. Erzählt wird heute die eines akribische­n Arbeiters, eines harten Hundes mit Humor und Herz, die Geschichte eines Goldschmie­des auf dem Eis.

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Mit der goldenen Gunda Niemann-Stirnemann während der Mehrkampf-WM  in Inzell. Als Antreiber und Herr der Rundentafe­l am Rande des Eisovals beim Weltcup  in Berlin. Mit Silbermeda­illengewin­nerin Stephanie Beckert bei den Winterspie­len  in...

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