Ich kenne was, was du nicht kennst
Wie ein Projekt der Universität Jena Lehrern helfen will, kulturelle Vielfalt in den Klassen als Potenzial zu nutzen
Jena. Ein Stuhlkreis, in der Mitte liegen Fotos: Lachende Gesichter vor römischen Ruinen, ein Familienausflug im Wald, eine orientalisch anmutende Straße. Momentaufnahmen einer Kindheit, die Schüler haben die Bilder selber ausgesucht. Warum, das erzählen sie dann und die anderen fragen. Wieso ausgerechnet dieses Bild? Warst du dort fröhlich? Wer sind die anderen auf dem Foto?
Aus den Antworten werden kleine Geschichten. Zögernd, tastend, diese sehr persönliche Perspektive ist ungewohnt. Die Kinder erfahren vom Leben ihrer Klassenkammerden, was sie zuvor gar nicht wussten und die Fotos sind der Impuls. Weil sie Neugier erzeugen und aus Neugier Fragen wachsen. Damit fängt vieles an.
21 Kinder gehen in diese dritte Klasse der Eisenacher Mosewaldschule. Einige kommen aus Syrien, aus Jemen, aus Russland, aus Serbien. Eine Klasse wie viele andere auch in Thüringen, deren Lehrer sich fragen, wie sie besser umgehen sollen mit solchen Unterschiedlichkeiten. Und diese ungewöhnliche Stunde im März vergangenen Jahres ist Teil eines internationalen Projektes, das Antworten darauf ausloten will: „Sharemed“, was für geteilte Erinnerung steht.
Vor zwei Jahres startete es, neben dem Institut für Interkulturelle Kommunikation der Universität Jena sind die Universitäten in Modena (Italien) und im englischen Suffolk beteiligt. Im Kern geht um Antworten auf die Heterogenität in den Klassenzimmern, die zunehmend inklusiv und multikulturell werden. Um Wege, wie Lehrer neben all den Fragen und Problemen die das mit sich bringt, das kreative Potenzial nutzen, das in den verschiedenen Erfahrungen und kulturellen Hintergründen der Kinder liegt.
Vielfalt nicht als Problemlage, sondern als Bereicherung begreifen. - So könnte man die Botschaft beschreiben. Und die Frage, wie Kinder besser mitgenommen und eingebunden werden können. Das Recht auf individuelle Förderung jedes Kindes ist festgeschrieben, die große Frage ist: Wie macht man das?
Seit 2016 führten die Wissenschaftler Workshops in Deutschland, Italien und Großbritannien durch. In Thüringen waren neben der Mosewaldschule in Eisenach auch Achtbis Zwölfjährige in Jena, Erfurt und Bad Tabarz beteiligt. Man könnte es pädagogische Feldversuche nennen, deren Ergebnisse nun in Jena vorgestellt wurden.
Luisa Conti, die von der Universität Jena federführend dabei ist, spricht von zum Teil berührenden Gesprächen. Von einem Kind zum Beispiel, das ein Foto von sich und seinem Bruder mitbrachte. Sie würden nicht sehr fröhlich aussehen, hatte jemand bemerkt. Das Bild, stellte sich heraus, wurde während der Wartezeit vor einer Ausländerbehörde aufgenommen, es ging um die Frage, ob die Familie in Deutschland bleiben kann. Was ist eine Abschiebung? Ein anderes Kind brachte ein Foto von Panzern in Aleppo mit. Auch um solche Themen ging es in den Gesprächen. Aber nicht nur. Die andere Herkunft, die fremde Muttersprache war für Kinder mit Migrationshintergrund häufig gar nicht so wichtig. Und umgekehrt wurden sie von ihren Mitschülern auch nicht immer danach befragt. Hobbys waren wichtig, der Besuch im Schwimmbad, der neugeborene Bruder. Die Schnittmengen eines Alltags, ganz egal wo die Kinder geboren wurden.
Aus Gesprächen und aus Fragebögen habe man erfahren, dass sich viele Flüchtlingskinder auf ihren Flüchtlingsstatus reduziert fühlen und oft auch unterfordert, weil die Lehrer selber unsicher sind.
Der multikulturelle Fokus stand bei den Workshops zwar im Vordergrund, doch die Erfahrungen gingen darüber hinaus. Luisa Conti erzählt von einem Jungen, der als notorischer Störenfried in der Klasse gilt, der am Ende die Klasse mit Zaubertricks beeindruckte. Plötzlich war er nicht mehr das schwierige Kind. Weil ein Raum geschaffen wurde, wo man ihm zuhörte und wo er Wertschätzung erfuhr. In den Fragebögen hätten 40 Prozent der Kinder angegeben, genau das in der Schule zu vermissen: Wertschätzung.
Jedes Kind hat eigene Erfahrungen, eigene Hintergründe, eigene Geschichten, die für andere interessant und wertvoll sind. Und je vielfältiger eine Klasse ist, desto vielfältiger kann ihr Blick in die Welt sein. Man muss nur Kinder ermuntern, sich einzubringen. Im Übrigen hatte die unterschiedliche Intensität der Gespräche während der Workshops nichts damit zu tun, wie viele Kinder mit Migrationshintergrund dazugehörten oder Kinder mit einer Behinderung. Die Moderation des Lehrers, so Luisa Conti, war entscheidend.
Mit den Ergebnissen sollen Pädagogen didaktische Instrumente in die Hände gegeben werden. Nun hofft man in Jena auf Interesse der Lehrerschaft. Videos aus den Workshops in den drei Ländern und Praxisbeispiele sollen über eine interaktiven Lernplattform abrufbar sein, Fortbildungen sind ebenfalls geplant.
Didaktische Instrumente für Pädagogen
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Infos: www.sharemed.de