Verloren in Afghanistan
Der Militäreinsatz am Hindukusch geht ins 18. Jahr. Vor der Parlamentswahl in einer Woche hat sich die Lage dramatisch verschlechtert
Berlin. Die Zahl der in Afghanistan Getöteten wird von der Nichtregierungsorganisation „International Crisis Group“für 2018 auf bis zu 20.000 geschätzt. Mehr als im Vorjahr, mehr als in Syrien. Was am 7. Oktober 2001 als Kampf gegen den Terrorismus begann, hat das Land auch 17 Jahre später nicht befriedet. „Eine Art strategisches Patt“, macht der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) aus, „nicht verloren, nicht gewonnen“. Die Bundeswehr schloss sich Ende 2001 der Mission an, seither ist es Routine geworden, den Einsatz zu verlängern, zuletzt im März. Es gilt eine Logik: durchhalten. Die Linke fordert einen Abzug, die Grünen eine Exit-Strategie, auch in der Koalition mehren sich „die kritischen Stimmen“, wie der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Wolfgang Hellmich (SPD), einräumt. „Wir sind nach Afghanistan zuallererst aus Solidarität mit den USA gegangen“, erinnert Bartels. Solange die Amerikaner bleiben, ist die Bundeswehr dabei. „Fight and Talk“, lautet die Strategie der Führungsmacht. Einerseits massive Angriffe, andererseits Gesprächsangebote. Aber die Taliban „lassen sich nicht zwingen“, so Hellmich. Im Gegenteil: Sie wollen die mit mehr als dreijähriger Verspätung für den 20. Oktober angesetzte Parlamentswahl behindern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist stolz darauf, dass die Truppe die Stellung hält. „Manche sagen, es dauert ja ewig, ehe ihr euch mal entscheidet, wo ihr hingeht“, erzählte sie auf der Bundeswehrtagung. „Ja, manchmal dauert es vielleicht ein bisschen länger als bei anderen. Aber wenn wir einmal da sind, bleiben wir auch so lange wie nötig.“Für sie war es ein Fehler, dass die Sowjetunion Ende der 80er-Jahre ihre Truppen aus Afghanistan abzog und die Machtübernahme der Taliban begünstigte. Die Kanzlerin wirbt dafür, den Fehler nicht zu wiederholen.
Bei der Nato-Mission „Resolute Support“bilden Soldaten aus 39 Staaten afghanische Truppen aus. Die sollen ausgebaut, ausgebildet und beraten werden – und letztlich befähigt werden, „ihr Schicksal in ihre eigenen Hände“(Merkel) zu nehmen. Doch Wunsch und Wahrheit klaffen auseinander. Nach US-Angaben nahm die Zahl der afghanischen Soldaten und Polizisten 2018 gegenüber dem Vorjahr um mehr als 35.000 ab. Die Fluktuation ist hoch, weil viele sterben oder desertieren. „Insider-Anschläge“sind eine ständige Bedrohung. Über den Sommer hat sich die Lage erneut verschlechtert.
In der nördlichen Provinz Baglan töteten die Taliban Mitte August mindestens 40 Sicherheitskräfte, weitere 50 bei einem Angriff auf eine Militärbasis in Fariab. Hunderte Kämpfer auf beiden Seiten sowie Zivilisten starben in Gasni im Osten des Landes, 68 bei einem Anschlag in Nangarhar. Von Gewalt überschattet war schon der Beginn der Wählerregistrierung ab Mitte April. Die Vereinten Nationen meldeten, dass durch Angriffe von Islamisten alleine im ersten Monat 86 Zivilisten getötet worden seien. Selbst nach offiziellen Angaben kontrollieren die Taliban 14 Prozent des Landes, um mehr als die Hälfte wird gekämpft. Irritiert registriert man in Berlin Berichte, wonach die aufständischen Kämpfer besser ausgerüstet sind mit Nachtsichtgeräten und Laserzielfernrohren. Hellmich: „Wer beliefert die?“
„Natürlich sehen die Soldaten, dass die Sicherheitslage nicht besser wird“, berichtet der Wehrbeauftragte Bartels von seinen Gesprächen in der Truppe, „manche stellen sich durchaus die Sinnfrage.“Aber: „Ginge man jetzt weg, hätten vor allem die Afghanen unendlich viel zu verlieren.“Bartels Fazit: Afghanistan sei kein Muster für künftige westliche Interventionen. „Aber man kann und muss aus dieser Mission lernen.“
„Kämpfen und reden“, lautet die Losung der USA
Die elend stabile Routine schlechter Nachrichten
Die 39 Staaten der „Mission Resolute Support“sind mit 16.000 Soldaten vertreten, bis zu 1300 aus der Bundeswehr. Ein 21 Seiten langer Bericht für die Parlamentarische Versammlung der Nato benennt die Probleme: Das Land sehe sich konfrontiert mit „erweiterten und stärkeren Aufständen“, während gleichzeitig seine Institutionen geschwächt seien „durch interne Machtkämpfe und Korruption“. Den afghanischen Streitkräften werden Mängel bei „Führung, Nachrichtenwesen, Überwachung und Aufklärung, Logistik und Koordinierung zwischen den Dienststellen und Behörden und tragfähiger Unterstützung“attestiert. Die Bundesregierung hat seit 2009 gut 450 Millionen Euro in einen Treuhandfonds für die afghanischen Streitkräfte eingezahlt. Insgesamt sind Milliarden von Stabilisierungs-Dollars geflossen – und teils in den Kassen verschiedener Clans verschwunden.
Der spürbare Abzug von Nato-Truppen seit 2014 und der damit verbundene Verlust an Einnahmen war nach einem Bericht der Bundesregierung „ein Schock für die afghanische Wirtschaft“, die ohnehin am Boden liegt. Afghanische Roherzeugnisse werden oft außerhalb des Landes veredelt; in Pakistan findet die Wertschöpfung statt. In Afghanistan floriert ein Gewerbe: Nach dem Bericht des für die Drogenbekämpfung zuständigen Büros der Vereinten Nationen UNODC ist die geschätzte Opiumproduktion 2017 um 63 Prozent gestiegen, auf 9000 Tonnen. „Es gibt“, bemerkt Bartels, „eine elend stabile Routine schlechter Nachrichten.“Womöglich die einzige Stabilität am Hindukusch.