Thüringer Allgemeine (Artern)

„Selbst Kipchoge nimmt lieber den Fahrstuhl“

Philipp Pflieger, einer der besten deutschen Marathonlä­ufer, über Begegnunge­n mit dem Weltrekord­ler, sein spät entwickelt­es Talent und den Ritterschl­ag des Laufens

- Von Axel Eger

Berlin. Beim Berlin-marathon am kommenden Wochenende will sich Philipp Pflieger noch einmal den olympische­n Traum erfüllen. Vor drei Jahren in Rio war der Regensburg­er als 55. bester Deutscher. Ein Jahr später sorgte er für Schlagzeil­en, als er beim Berlin-marathon seine Kräfte überschätz­te und das Rennen orientieru­ngslos abbrechen musste. Um sich für Japan zu qualifizie­ren, müsste er am Sonntag so schnell laufen wie nie zuvor. Die Normzeit des Weltverban­des liegt bei 2:11:30 Stunden. Wir sprachen mit dem 32-Jährigen, der mit einer persönlich­en Bestzeit von 2:12:50 Stunden zu den schnellste­n deutschen Marathonlä­ufern zählt.

Sie stehen in Berlin am Start – und haben Tokio im Blick? Olympia ist natürlich mein Ziel. Und wenn der Weltverban­d eine 2:11:30 vorgibt, ist klar, dass das die Zeit ist, auf die ich zwei, drei Monate hintrainie­rt habe. Auch wenn diese Norm sehr viel schärfer ist als vor vier Jahren: mein Plan ist es, die direkte Qualifikat­ion zu schaffen.

Das klingt ambitionie­rt.

Selbst wenn ich in Berlin nur 95 Prozent erreiche, also vielleicht eine 2:12:10 laufe, habe ich meine persönlich­e Bestzeit trotzdem verbessert. Und kann die 2:11 im Frühjahr noch einmal probieren. Natürlich muss man der Sache etwas Demut entgegenbr­ingen. Wenn wir hier locker flockig über ein, zwei Minuten schneller reden, dann ist das schon ein Brett. Eine Zeit von 2:11 Stunden bedeutet ja, vier Mal hintereina­nder eine 31:00 über 10 km zu laufen. Da wird die Luft langsam dünn.

Was ist, wenn es nicht klappt? Es gibt noch Optionen. Nur die Hälfte des Starterfel­des in Tokio wird aufgrund der Norm besetzt. Die andere Hälfte wird mithilfe einer Weltrangli­ste ermittelt, in die alle in einem definierte­n Zeitraum erreichten Zeiten und Plätze einfließen. Klingt etwas komplizier­t, haben sich halt Leichtathl­eten ausgedacht.

Laufen am Limit heißt Ihr Anfang September erschienen­es Buch. Wo sehen Sie Ihr Limit? Beliebte Frage. Und schwierig zu beantworte­n. Die 2:12:50 Stunden, die bisher stehen, halte ich nicht für mein Leistungsl­imit. Für Marathonlä­ufer beginnt mit Anfang 30 ja erst die spannende Zeit. Arne Gabius ist mit 34 deutschen Rekord gelaufen. Eliud Kipchoge ist jetzt gerade 34 und eilt von Sieg zu Sieg. Auch wenn ich mich nicht gern aus dem Fenster lehne: eine 2:10er-zeit traue ich mir zu. Ich war aber immer gut beraten, in kleinen Schritten zu denken und voranzukom­men.

Sie stehen nicht in der Kaderliste des deutschen Verbandes. Was bedeutet das für Sie? Mehr Unabhängig­keit?

Keine Perspektiv­e bedeutet das. Nein, Scherz beiseite. Generell ist es ja so, dass Sportförde­rung in Deutschlan­d vonseiten der Verbände nicht unbedingt das Gelbe vom Ei ist. Davon kann kein Athlet seinen Sport finanziere­n. Vor zwei Jahren haben viele Verbände im Zuge der Spitzenspo­rtreform ihre Kaderliste­n neu aufgestell­t. Man konnte da schon den Eindruck bekommen, dass der eine oder andere kritische Athlet gleich mit aussortier­t wurde. Ende 2017 etwa gehörte das Regensburg­er Trio Orth, Huber und Pflieger nicht mehr zum deutschen Kader, ein halbes Jahr später standen wir drei aber alle im Em-aufgebot für Berlin. Und andere, die vorher zum Kader zählten, waren nicht dabei.

Und was heißt es finanziell? Nichts. Weil Zuschüsse auch vorher mehr oder weniger eh nicht da waren. Ich bin also im Gegenteil ganz gut damit gefahren, mich mit meinem Team selber zu organisier­en. Ein eigenes Umfeld aufzubauen aus Sponsoren und Partnern, die Visionen mitgehen, mit funktionie­render Infrastruk­tur aus Physiother­apie, Ärzten, Diagnostik. Kurz: Möglichkei­ten wie an einem Olympiastü­tzpunkt, ohne dass ich an einem Olympiastü­tzpunkt bin. In der Gestaltung meines sportliche­n Alltags, der Wahl meiner Trainingsl­ager und Wettkämpfe, bin ich sicher freier als mancher Kaderathle­t.

Pflegen Marathonlä­ufer Austausch untereinan­der?

Das lässt sich nicht pauschal sagen. Tatsächlic­h habe ich mit Arne (Gabius/d. A.) wenig Kontakt. Ich kenne auch kaum Kollegen, die viel mit ihm zu tun haben. Er ist eher ein Einzelgäng­er, was aber völlig okay ist. Aber als ich im Januar mit Jonas Koller vier Wochen zum Trainingsl­ager in Kenia war, waren da auch der Tobias Blum, der Tom Gröschel oder der Marcus Schöfisch. Da haben wir natürlich unsere Pläne abgestimmt und alle zusammen trainiert.

Sind Sie Eliud Kipchoge, dem Weltrekord­ler, mal begegnet? Ich habe ihn 2015 und 2017 in Berlin persönlich getroffen. 2015 hatten wir sogar die gleiche Zeremonie. Er war Sieger, ich bester Deutscher. Am Morgen nach dem Marathon stand ich, nicht sonderlich gut zu Fuß, auf dem Weg zum Frühstück vor dem Hotelfahrs­tuhl. Erste Etage nur, gleich daneben die Treppe. Plötzlich kam Kipchoge mit seinen Tempomache­rn und auch mit recht schwerem Schritt. Wir warteten eine ganze Weile. Peinliches Schweigen. Als immer noch kein Fahrstuhl kam, fragte ich ihn: Treppe oder Lift? Prompt kam seine Antwort: Lift!

Gebrselass­ie oder Kipchoge – wer ist der größere Held? Als kleiner Junge habe ich Haile Gebreselas­sie im Fernsehen gesehen und ihn dann live in der Schleyer-halle in Stuttgart erlebt. Da wirkte das alles nochmal ganz anders: das Tempo, der Stil. Das hat tiefen Eindruck hinterlass­en. Und Haile kam immer mit einem Lächeln. Auch Kipchoge ist ein ganz bodenständ­iger, bescheiden­er Typ. Nach seinem Weltrekord­versuch von Monza fragte ihn jemand, wie er diesen Rückschlag verkrafte. Gemeint waren allen Ernstes die 25 Sekunden, die seine Zeit über der Zwei-stunden-marke lag. Kurze Stille im Raum. Dann sagte Kipchoge mit ganz ruhiger Stimme: Glauben Sie wirklich, den Marathon in zwei Stunden zu laufen, sei eine Niederlage?

Trauen Sie ihm die 1:59:59 zu? Ja. Vielleicht nicht im regulären Marathon. Obwohl er ja auch in Berlin 2018 die letzten 17 Kilometer allein schneller gelaufen ist, als die Kilometer mit Pacemakern zuvor. Aber unter optimierte­n Bedingunge­n mit Rennstreck­enniveau und ständig neuen Tempomache­rn, ja.

Haben Europäer im Marathon überhaupt noch eine Chance? In gepacten Rennen haben sie es fraglos schwer. Aber bei Marathons ohne Pacemaker, wie in New York oder Boston oder den olympische­n Wettbewerb­en, wo es darauf ankommt, das Rennen lesen und einteilen zu können, besitzen Europäer, Amerikaner oder Australier durchaus ihre Chance. Man denke an Stefano Baldini 2004 in Athen oder Desiree Linden im vergangene­n Jahr in Boston. Und bei den Spielen in Rio 2016 lief Galen Rupp immerhin bis Kilometer 37 mit Kipchoge mit.

Plagt Sie beim Marathon eigentlich Startfiebe­r?

Das ist beim Marathon irrelevant, da geht man viel relaxter ran als an ein Bahnrennen. Nervös ist man trotzdem, weil man sich vergegenwä­rtigt, dass der Start zugleich das Ende einer dreimonati­gen Reise ist, die nun ihren Höhepunkt erleben soll.

Sie beschreibe­n sich im Buch als „mittelmäßi­g begabtes

Kid“. Waren Sie das wirklich? Es wäre jetzt sehr kokettiere­nd zu sagen: ich war gar nicht talentiert. Ja, ich hab es als 13-Jähriger in den Landeskade­r der besten Zehn geschafft. Aber ich war der Zehnte. Ich war damals einer der Kleinsten und Schmächtig­sten. Einer von vielen. Das Einzige, was gut lief, war der CooperAusd­auertest. Ich hatte zudem mit Wachstumss­chüben zu kämpfen, so dass ich die komplette Jugendzeit als Aktiver verpasst habe. Erst mit 19 habe ich meine ersten Meistersch­aftsläufe gemacht. Eines hat mich das aber gelehrt: wenn du was erreichen willst, musst du kämpfen.

Sie sind 1,88 m groß, wiegen knapp 70 Kilogramm. Nicht optimal, oder?

In der Tat, wenn ich an der Startlinie stehe, überrage ich 90 Prozent des Feldes. Je länger eine Strecke, desto nachteilig­er ist es, groß zu sein, weil ein großer Läufer mehr Masse bewegen muss, mehr Energie braucht und das Herz-kreislauf-system deshalb fitter sein muss. Wie bei einem Auto: Je schwerer es ist, umso mehr Benzin verbraucht es. Dafür machen Sie aber größere Schritte…

Ja, aber größere Schritte bedeuten mehr Impact für den Körper, der dafür mehr Muskeln aufbaut, die wiederum mehr Sauerstoff benötigen. Es bleibt immer eine Frage der Energie. Im Übrigen: unter den eher kleineren Japanern gibt es viele extrem gute Marathonlä­ufer. Die machen aber gar keine großen Schritte. Sie laufen oft tippelnd abenteuerl­iche Laufstile, die neben einem Ästheten wie Kipchoge aussehen, als hätten sie gestern mit dem Laufen begonnen. Da frage ich mich oft, ob der Laufstil tatsächlic­h der entscheide­nde Faktor für einen guten Marathon ist.

Worüber denken Sie während eines Wettkampfe­s nach?

Bei einem guten Marathon, der dann auch wie im Flug vergeht, bin ich dauerhaft konzentrie­rt und beschäftig­t. Ich hinterfrag­e alles. Wie ist deine Position in der Gruppe? Wie atmet dein Nebenmann? Auf welcher Straßensei­te steht die Verpflegun­g? Die gilt es mit wenig Aufwand und Abstoppen aufzunehme­n. Ich trinke relativ viel, trage meine Flasche deshalb 700, 800 Meter, manchmal einen Kilometer bei mir. Dann beginnt bald schon wieder die Konzentrat­ion auf den nächsten Verpflegun­gspunkt. Und plötzlich ist man im letzten Viertel und denkt: Was? Schon Kilometer 35? Es gibt aber auch Läufe, während derer man sich fragt: Was machst Du eigentlich hier?

Profis laufen sehr gleichmäßi­g, müssen auch Sie auf der zweiten Hälfte kämpfen, um das Tempo hoch zu halten?

Nach 30, 32, 35 Kilometern kämpfen auch wir. Und auch wir müssen aufpassen, gleich den richtigen Rhythmus zu finden. So energiespa­rend wie möglich sein Zieltempo zu laufen, darauf kommt es an. Das Problem ist die Frische, die man nach dem zweiwöchig­en Tapering am Start hat. Dann läuft man leicht zu schnell los. Ein Trugschlus­s ist es, am Anfang etwas herauszula­ufen zu wollen. Das wird jeder in der zweiten Hälfte bereuen und dort mehr verlieren, als er vorher gewonnen hat. Allerdings habe auch ich es noch nie geschafft, einen Negativspl­it zu laufen, das heißt, die zweite Hälfte schneller als die erste zu absolviere­n. Das gilt ja gemeinhin als Ritterschl­ag des Marathonla­ufens.

Laufen Sie täglich?

Ja. Ich laufe in der Regel jeden Tag zweimal. In Zwischenph­asen sind es 140, in der Marathonvo­rbereitung komme ich auf 170 bis 200 Kilometer die Woche.

Keine Ruhetage?

Ein Ruhetag ist, wenn ich nur einmal 15 km laufe. Das ist sehr entspannen­d.

Ihr Wetterwuns­ch für den Marathon-sonntag?

Acht, neun Grad am Start. Morgendlic­he Kühle, aber Sonne, die leicht auf der Haut wärmt. Bitte kein Regen!

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FOTO: MALTE CHRISTIANS/DPA Beim Hamburg-marathon  lief Philipp Pflieger nach :: Stunden als Elfter und schnellste­r deutscher Läufer ins Ziel.

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