Sinn Féin wird zur Macht in Irland
Bei der Parlamentswahl etabliert sich der frühere politische Arm der Terrorgruppe IRA neben den großen Parteien
Dublin. Einst war Sinn Féin das Schmuddelkind der irischen Politik. Die linksgerichtete Partei galt als politischer Arm der Untergrundorganisation IRA (Irisch-republikanische Armee), die in Nordirland mit Waffengewalt und Attentaten für eine Vereinigung der irischen Insel kämpfte. Nun wird Sinn Féin zur ernst zu nehmenden Kraft in der Republik Irland: Bei der Parlamentswahl am Samstag konnte sie nach ersten Hochrechnungen mit den beiden bürgerlichen Parteien Fine Gael und Fianna Fáil gleichziehen. Alle drei Parteien kamen jeweils auf rund 22 Prozent.
Die am Sonntag begonnene Auszählung der Stimmen sollte wegen des komplizierten Wahlverfahrens einige Tage dauern. In Irland stimmen Wähler nicht über eine festgelegte Liste ab, sondern erstellen ihre eigene Liste, indem sie die Kandidaten nach Präferenz einstufen.
Der Wahlerfolg von Sinn Féin wurde von Beobachtern bereits mit einem politischen Orkan verglichen, der ähnlich wie Sturmtief Sabine am Wochenende über Irland hinwegfegte. Bislang hatten sich in der Geschichte des Landes seit der vollständigen Unabhängigkeit von Großbritannien stets Fine Gael und Fianna Fáil an der Macht abgewechselt. Damit könnte es zu Ende sein.
Ob Leo Varadkar, der erste offen homosexuelle Regierungschef des einst streng katholischen Landes, im Amt bleiben kann, galt als zweifelhaft. Er führt mit Fine Gael eine Minderheitsregierung, die von Fianna Fáil mit dem Oppositionschef
Micheál Martin an der Spitze toleriert wird. Varadkar hatte Mitte Januar die vorgezogene Neuwahl angesetzt, weil die Unterstützung durch Fianna Fáil bröckelte. Ob die Zusammenarbeit fortgesetzt wird, möglicherweise unter umgekehrten Vorzeichen, war am Sonntag ungewiss.
Kaum Chancen auf das Amt der Regierungschefin hat die Sinn-féinPräsidentin Mary Lou Mcdonald. Die 50-Jährige, die als Mitglied des Eu-parlaments internationale Erfahrung sammelte, ist seit genau zwei Jahren als Nachfolgerin von Gerry Adams Chefin der Partei. Doch der aktuelle Erfolg kommt für Sinn Féin überraschend: Die Partei hatte nur 42 Kandidaten für das Parlament mit 160 Sitzen aufgestellt.
Trotzdem galt Mcdonald noch vor der Auszählung der Stimmen als strahlende Siegerin. Ihre Partei hatte bei der vergangenen Wahl 2016 nur rund 14 Prozent der Stimmen erreicht. Sie fordert eine Wiedervereinigung des britischen Nordirland mit der zur EU zählenden Republik Irland. Als einzige Partei tritt sie in beiden Teilen Irlands an. Punkten konnte Sinn Féin vor allem mit Forderungen in der Sozialpolitik. Der Eu-austritt Großbritanniens spielte keine große Rolle. Nur ein Prozent der Wähler gab bei der Nachwahlbefragung an, der Brexit sei das bedeutendste Thema gewesen, berichtete der irische Rundfunksender RTÉ. Ausgerechnet damit hatte Varadkar sich aber profilieren wollen. Er fuhr in den Verhandlungen zwischen Brüssel und London einen harten Kurs und konnte sich weitgehend durchsetzen. Am wichtigsten waren den Wählern jedoch die Themen Gesundheit, Wohnen und Rente.
Werden nun die Grünen zum Königsmacher?
Die Regierungsbildung dürfte sich nun schwierig gestalten. Beide bürgerlichen Parteien haben eine Koalition mit Sinn Féin ausgeschlossen. Auf eine Koalition mit Fine Gael will sich Fianna Fáil aber nicht einlassen, und beiden dürfte es selbst mithilfe der jeweils anderen Partei schwerfallen, eine Minderheitsregierung zu bilden. Die Rolle der Königsmacher könnte den Grünen zufallen. Die kamen der Befragung zufolge auf acht Prozent der Stimmen.
Sollte es wider Erwarten zu einer Regierungsbeteiligung von Sinn Féin kommen, dürfte die Forderung nach einem baldigen Referendum über die irische Wiedervereinigung in Dublin zur offiziellen Regierungslinie werden. Das würde auch die Brüsseler Verhandlungen mit Großbritannien über die künftigen Beziehungen nach dem Ende der Brexit-übergangszeit zum Jahresende betreffen. Am vorteilhaftesten für Sinn Féin wäre es aber, wenn eine Regierungsbildung scheitert und es eine Neuwahl gibt. Noch einmal würde die Partei kaum zu wenige Kandidaten aufstellen. dpa