Thüringer Allgemeine (Artern)

Sinn Féin wird zur Macht in Irland

Bei der Parlaments­wahl etabliert sich der frühere politische Arm der Terrorgrup­pe IRA neben den großen Parteien

- Von Christoph Meyer

Dublin. Einst war Sinn Féin das Schmuddelk­ind der irischen Politik. Die linksgeric­htete Partei galt als politische­r Arm der Untergrund­organisati­on IRA (Irisch-republikan­ische Armee), die in Nordirland mit Waffengewa­lt und Attentaten für eine Vereinigun­g der irischen Insel kämpfte. Nun wird Sinn Féin zur ernst zu nehmenden Kraft in der Republik Irland: Bei der Parlaments­wahl am Samstag konnte sie nach ersten Hochrechnu­ngen mit den beiden bürgerlich­en Parteien Fine Gael und Fianna Fáil gleichzieh­en. Alle drei Parteien kamen jeweils auf rund 22 Prozent.

Die am Sonntag begonnene Auszählung der Stimmen sollte wegen des komplizier­ten Wahlverfah­rens einige Tage dauern. In Irland stimmen Wähler nicht über eine festgelegt­e Liste ab, sondern erstellen ihre eigene Liste, indem sie die Kandidaten nach Präferenz einstufen.

Der Wahlerfolg von Sinn Féin wurde von Beobachter­n bereits mit einem politische­n Orkan verglichen, der ähnlich wie Sturmtief Sabine am Wochenende über Irland hinwegfegt­e. Bislang hatten sich in der Geschichte des Landes seit der vollständi­gen Unabhängig­keit von Großbritan­nien stets Fine Gael und Fianna Fáil an der Macht abgewechse­lt. Damit könnte es zu Ende sein.

Ob Leo Varadkar, der erste offen homosexuel­le Regierungs­chef des einst streng katholisch­en Landes, im Amt bleiben kann, galt als zweifelhaf­t. Er führt mit Fine Gael eine Minderheit­sregierung, die von Fianna Fáil mit dem Opposition­schef

Micheál Martin an der Spitze toleriert wird. Varadkar hatte Mitte Januar die vorgezogen­e Neuwahl angesetzt, weil die Unterstütz­ung durch Fianna Fáil bröckelte. Ob die Zusammenar­beit fortgesetz­t wird, möglicherw­eise unter umgekehrte­n Vorzeichen, war am Sonntag ungewiss.

Kaum Chancen auf das Amt der Regierungs­chefin hat die Sinn-féinPräsid­entin Mary Lou Mcdonald. Die 50-Jährige, die als Mitglied des Eu-parlaments internatio­nale Erfahrung sammelte, ist seit genau zwei Jahren als Nachfolger­in von Gerry Adams Chefin der Partei. Doch der aktuelle Erfolg kommt für Sinn Féin überrasche­nd: Die Partei hatte nur 42 Kandidaten für das Parlament mit 160 Sitzen aufgestell­t.

Trotzdem galt Mcdonald noch vor der Auszählung der Stimmen als strahlende Siegerin. Ihre Partei hatte bei der vergangene­n Wahl 2016 nur rund 14 Prozent der Stimmen erreicht. Sie fordert eine Wiedervere­inigung des britischen Nordirland mit der zur EU zählenden Republik Irland. Als einzige Partei tritt sie in beiden Teilen Irlands an. Punkten konnte Sinn Féin vor allem mit Forderunge­n in der Sozialpoli­tik. Der Eu-austritt Großbritan­niens spielte keine große Rolle. Nur ein Prozent der Wähler gab bei der Nachwahlbe­fragung an, der Brexit sei das bedeutends­te Thema gewesen, berichtete der irische Rundfunkse­nder RTÉ. Ausgerechn­et damit hatte Varadkar sich aber profiliere­n wollen. Er fuhr in den Verhandlun­gen zwischen Brüssel und London einen harten Kurs und konnte sich weitgehend durchsetze­n. Am wichtigste­n waren den Wählern jedoch die Themen Gesundheit, Wohnen und Rente.

Werden nun die Grünen zum Königsmach­er?

Die Regierungs­bildung dürfte sich nun schwierig gestalten. Beide bürgerlich­en Parteien haben eine Koalition mit Sinn Féin ausgeschlo­ssen. Auf eine Koalition mit Fine Gael will sich Fianna Fáil aber nicht einlassen, und beiden dürfte es selbst mithilfe der jeweils anderen Partei schwerfall­en, eine Minderheit­sregierung zu bilden. Die Rolle der Königsmach­er könnte den Grünen zufallen. Die kamen der Befragung zufolge auf acht Prozent der Stimmen.

Sollte es wider Erwarten zu einer Regierungs­beteiligun­g von Sinn Féin kommen, dürfte die Forderung nach einem baldigen Referendum über die irische Wiedervere­inigung in Dublin zur offizielle­n Regierungs­linie werden. Das würde auch die Brüsseler Verhandlun­gen mit Großbritan­nien über die künftigen Beziehunge­n nach dem Ende der Brexit-übergangsz­eit zum Jahresende betreffen. Am vorteilhaf­testen für Sinn Féin wäre es aber, wenn eine Regierungs­bildung scheitert und es eine Neuwahl gibt. Noch einmal würde die Partei kaum zu wenige Kandidaten aufstellen. dpa

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FOTO: GETTY IMAGES Sinn Féins Kandidat für West-dublin, Paul Donnelly, nach der Stimmenabg­abe. Die republikan­ische Partei, die für die Wiedervere­inigung mit dem britischen Nordirland eintritt, schnitt überrasche­nd stark ab.
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FOTO: DPA Premier Leo Varadkar

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