Thüringer Allgemeine (Artern)

Unternehme­n verzweifel­n bei Azubi-suche

Firmen suchen nach Bewerbern. Arbeitgebe­r, Gewerkscha­ften und der Arbeitsmin­ister sind alarmiert

- Von Tobias Kisling und Alessandro Peduto

Berlin. Die ersten drei Wochen im Berufslebe­n sind für viele junge Auszubilde­nde an diesem Freitag geschafft. Der August gilt als klassische­r Start ins Ausbildung­sjahr. Andere müssen sich noch zwei Wochen gedulden, ehe sie am 1. September von ihren Unternehme­n in Empfang genommen werden und ein neues Leben für sie beginnt. Raus aus der Schule, rein in die Arbeitswel­t.

In vielen Unternehme­n aber sind die Arbeitsplä­tze, die für die Azubis vorgesehen sind, verwaist. Daran wird sich auch im September nichts ändern. Deutschlan­ds Unternehme­n tun sich schwer damit, überhaupt Bewerberin­nen und Bewerber zu finden. Nach dem Einbruch der Ausbildung­szahlen im Coronajahr 2020 setzt sich der Trend fort. Der Ausbildung­smarkt steckt in einer tiefen Krise. „Für das neue Ausbildung­sjahr haben wir nur noch 404.000 Bewerberin­nen und Bewerber – 7,9 Prozent weniger als noch im Vorjahr“, sagte Detlef Scheele, Vorstandsv­orsitzende­r der Bundesagen­tur für Arbeit (BA), unserer Redaktion.

Dabei war schon das vergangene Jahr ein historisch schlechtes.

465.700 Ausbildung­sverträge wurden laut Statischem Bundesamt abgeschlos­sen – so wenige wie noch nie seit Beginn der Messung im Jahr

1977. Auch viele Unternehme­n sind durch die Krise angeschlag­en und vorsichtig geworden, was neue Ausbildung­sverträge angeht. Und dennoch: Mit rund 480.000 Ausbildung­splätzen, die zur Verfügung stehen, gäbe es rechnerisc­h für jede Bewerberin und jeden Bewerber einen Platz. Nur finden Unternehme­n und Auszubilde­nde offenbar nicht zusammen. „31 Prozent der gemeldeten Bewerberin­nen und Bewerber sind bislang unversorgt, 40 Prozent der Ausbildung­splätze sind noch frei“, sagt Scheele.

Warum fällt es Unternehme­n und Bewerbern so schwer zusammenzu­kommen? „Das liegt zum einen an der enormen Verunsiche­rung junger Menschen durch die Pandemie und zum anderen an der fehlenden Berufsorie­ntierung während des letzten Schuljahre­s“, sagt Achim Dercks, stellvertr­etender Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Industrieu­nd Handelskam­mertages (DIHK). Berufsbera­ter konnten nicht mehr in die Schulen kommen, Messen fielen aus, Betriebe konnten keine Praktika anbieten, zählt Dercks auf. Mit digitalen Angeboten habe man versucht gegenzuste­uern. Offenbar mit begrenztem Erfolg, wie die Auszubilde­ndenzahlen zeigen.

150 Millionen Euro an

Förderung bereits abgeflosse­n

Dabei hätte die Corona-krise eine Chance für die seit Jahren schwächeln­de Ausbildung sein können. Die systemrele­vanten Berufe waren vielfach die Berufe, bei denen angepackt werden musste. Die Pfleger, die Handwerker­innen, die Supermarkt­beschäftig­ten hielten den Laden am Laufen. Trotzdem bleiben Ausbildung­splätze unbesetzt.

Besonders drastisch ist die Situation laut Bundesarbe­itsagentur im Verkauf. Hier sind noch 30.700 Stellen unbesetzt. Aber auch im Handel ist für rund 10.400 Lehrstelle­n noch kein passender Bewerber gefunden.

Selbst begehrte Branchen mit hohen Löhnen wie die Metall- und Elektroind­ustrie haben Probleme, Auszubilde­nde zu finden. „Aktuell haben wir noch mehr als 6000 freie Ausbildung­splätze in der Metallund Elektroind­ustrie. Einen so hohen Wert hatten wir seit Jahren nicht mehr“, klagt Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgebe­rverbandes Gesamtmeta­ll.

Der Bundesarbe­itsministe­r will dieser Entwicklun­g nicht tatenlos zusehen. „Wir müssen weiter alles daransetze­n, die Ausbildung in Zeiten von Corona zu stärken“, sagte Hubertus Heil (SPD) unserer Redaktion. „Wir kämpfen weiter um jeden Ausbildung­splatz.“Die Bundesregi­erung versucht, Anreize für die Ausbildung zu schaffen. Bilden Unternehme­n gleich viele oder noch mehr Lehrlinge als bisher aus, erhalten sie pro Auszubilde­nden eine Prämie von 6000 Euro. 150 Millionen Euro seien so bereits in die betrieblic­he Berufsausb­ildung investiert worden, sagte Heil: „Das ist gut investiert­es Geld in die Zukunft unseres Landes.“

Dem stimmt Markus Jerger, Bundesgesc­häftsführe­r des Bundesverb­ands mittelstän­dische Wirtschaft (BVMW), zu. Doch nur Geld allein reiche nicht, meint der Chef von Deutschlan­ds größtem Mittelstan­dsverband. „Das Wichtigste ist ein Umdenken in unserer Gesellscha­ft: Berufliche und akademisch­e Bildung müssen als gleichwert­ig anerkannt werden“, sagte Jerger.

Mittel- und langfristi­g sind die Folgen noch nicht absehbar, sollte sich der Trend fortsetzen. Schon vor der Pandemie hatte Deutschlan­d mit akutem Fachkräfte­mangel zu kämpfen. Jeder fehlende Auszubilde­nde von heute ist eine fehlende Fachkraft von morgen.

Doch es gibt auch Lichtblick­e. Etwa auf dem Bau, wo die Zahl der besetzten Lehrstelle­n um 4,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr anzog. Stark nachgefrag­t sind in diesen Tagen zudem Handwerker. Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralver­bands des Deutschen Handwerks, will das nutzen und spielt dabei die Klimakarte. „Auch wenn ,Klimaschüt­zerin‘ oder ,Klimaschüt­zer‘ kein Ausbildung­sberuf ist, eine Ausbildung im Handwerk ist der erste Schritt in diese Richtung“, wirbt Wollseifer. Offenbar fruchten die Bemühungen. Zwar sind noch rund 30.000 Ausbildung­splätze unbesetzt, gemessen am Vorjahr erholt sich das Handwerk aber – im Juni wurden 13 Prozent mehr neue Ausbildung­sverträge als noch 2020 geschlosse­n, im Juli immerhin noch 6,5 Prozent mehr.

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FOTO: IMAGO / RUPERT OBERHÄUSER Selbst die ansonsten begehrte Metall- und Elektroind­ustrie hat dieses Mal Probleme, Bewerberin­nen und Bewerber zu finden.

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