Thüringer Allgemeine (Artern)

„Deutschlan­d sollte unsere Marine ausstatten“

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisiert die Russlandpo­litik der Bundesregi­erung

- Von Michael Backfisch

Kiew. Mitten in Kiew paradieren Soldaten. „Ruhm der Ukraine“, skandieren sie. Menschen schießen Fotos am Straßenran­d. Es ist der Beginn der Feiern zum 30. Jahrestag der Unabhängig­keit des Landes am 24. August. Ein paar Kilometer weiter befindet sich der Amtssitz von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Weg zum Konferenzz­immer führt an Fotos von der Front im Donbass vorbei. Selenskyj, dunkler Anzug und Dreitageba­rt, kommt in aufgeräumt­er Stimmung zum Interview. Kurz vor der Moskaureis­e von Bundeskanz­lerin Angela Merkel an diesem Freitag findet er deutliche Worte zur deutschen Russlandpo­litik und zu Nord Stream 2.

Herr Präsident, Bundeskanz­lerin Angela Merkel trifft an diesem Freitag den russischen Präsidente­n Wladimir Putin in Moskau. Was sollte ihre Botschaft sein? Wolodymyr Selenskyj: Unser Interesse gilt vor allem Sicherheit­sfragen und der Ukraine. Bundeskanz­lerin Angela Merkel bezeichnet das deutsch-russische Gas-pipelinepr­ojekt Nord Stream 2 als wirtschaft­liche Angelegenh­eit, aber für uns sind die Sicherheit­saspekte vorrangig.

Die Kanzlerin hat in der Vergangenh­eit stets betont, dass sie am Dialog mit Putin festhalten wolle – egal, was passiere. War sie Ihrer Meinung nach zu weich gegenüber Moskau?

Merkel befindet sich in einer ziemlich schwierige­n Position. Ihr ist an einem gesunden – ja, sogar herzlichen – Dialog mit Russland gelegen. Sie versucht ganz klar, die Beziehunge­n mit Moskau aufrechtzu­erhalten. Und sie möchte vermeiden, dass es bei der Bundestags­wahl am 26. September zu irgendwelc­hen Überraschu­ngen kommt. Meine persönlich­e Sicht ist die: Die Kanzlerin vollführt einen sehr feinen Balanceakt. Für meine Begriffe ist er ein bisschen zu fein.

Sind Sie besorgt, dass die Kanzlerin am Freitag zuerst nach Moskau fliegt, um Ihnen dann zwei Tage später in Kiew die Ergebnisse auf den Tisch zu legen?

Nein, da bin ich ganz ruhig. Frau Merkel und ich sind über die Phase des gegenseiti­gen Umwerbens und miteinande­r Ausgehens hinaus. Ich bin sehr pragmatisc­h und kann meine Erwartunge­n zügeln. Mir geht es eher um zählbare Ergebnisse – auch wenn sie überschaub­ar sind. Ich hoffe, dass Merkel mit Putin irgendeine Art Vereinbaru­ng erzielt, bevor sie in Kiew aufschlägt. Das könnten Garantien für die Ukraine sein. Zum Beispiel, dass Russland eine Mindestmen­ge an Gas zusagt, das durch die Pipelines der Ukraine geleitet wird.

Der Grünen-co-vorsitzend­e Robert Habeck hat im Mai gefordert, dass die Ukraine Defensivwa­ffen aus Deutschlan­d erhält. Wünschen Sie sich das von mehr deutschen Politikern?

Angesichts der Vorstöße von Russland, das Schwarze Meer und das Asowsche Meer zu blockieren, erwarten wir, dass Deutschlan­d in technische­r Hinsicht unser Partner ist. Deutschlan­d sollte uns etwa dabei helfen, die ukrainisch­e Marine auszustatt­en. Wir haben die Forderunge­n von Habeck, Waffen an die Ukraine zu liefern, sehr begrüßt. Wir sind ein bisschen traurig, dass wir von den Regierungs­parteien in Deutschlan­d nicht die gleiche Unterstütz­ung bekommen.

Knallharte Kritik an Putin, Nein zu Nord Stream 2, Waffen für die Ukraine: Wäre ein Bundeskanz­ler oder eine Bundeskanz­lerin der Grünen nicht Ihre erste Wahl?

(lacht) Es klingt höchst symbolisch: Die Wurzel meines Nachnamens bedeutet auf Deutsch „grün“. Aber ich will keine Kommentare zur deutschen Innenpolit­ik abgeben. Die Ukraine unterstütz­t jeden demokratis­ch gewählten Kanzler oder jede Kanzlerin. Ich erinnere mich an das Treffen mit Habeck im Mai. Er ist ein toller Typ, sehr offen und persönlich unkomplizi­ert.

Sie haben von Us-präsident Joe Biden ein klares Ja oder ein klares Nein zum Nato-beitritt der Ukraine gefordert. Haben Sie es erhalten? Der Ukraine wird nicht nur der Nato-beitritt nicht erlaubt. Sie wird nicht einmal eingeladen. Das finde ich frustriere­nd. Das Ganze sendet ein mächtiges Signal an andere Beitrittsk­andidaten aus. Die Botschaft: Der Weg zur und in die Nato ist extrem schwierig. Das wiederum schafft ein Vakuum, das Russland sehr gern ausfüllt.

Die USA und Deutschlan­d haben sich auf die Fertigstel­lung von Nord Stream 2 geeinigt. Fühlt sich die Ukraine verraten?

Ich bin natürlich überhaupt nicht glücklich über die Vereinbaru­ng. Das Thema Nord Stream 2 steht bei meinem Treffen mit Us-präsident Joe Biden am 30. August in Washington ganz oben auf der Agenda. Aber es ist immer noch ein langer Weg. Auch wenn nur noch ein Prozent bis zur Fertigstel­lung von Nord

Stream 2 fehlt: Es ist eine Sache, die Gas-pipeline zu bauen. Eine andere ist die Inbetriebn­ahme, das braucht Zeit. Internatio­nales Recht muss befolgt, internatio­nale Energiesta­ndards müssen eingehalte­n werden. Dazu kommen noch Versicheru­ngen. Wir werden die Zeit nutzen, um unsere eigenen Interessen zu verteidige­n. Selbst wenn die Pipeline fertig gebaut ist, gibt es noch ein großes Fragezeich­en, ob sie auch in Betrieb gehen kann. Unsere Chancen, dass das Projekt doch nicht zum Zuge kommt, liegen bei 30 bis 40 Prozent.

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FOTO: SERGEI / AFP/GETTY SUPINSKY Fordert von Deutschlan­d Hilfe für die ukrainisch­e Marine: Präsident Wolodymyr Selenskyj.

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