„Deutschland sollte unsere Marine ausstatten“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisiert die Russlandpolitik der Bundesregierung
Kiew. Mitten in Kiew paradieren Soldaten. „Ruhm der Ukraine“, skandieren sie. Menschen schießen Fotos am Straßenrand. Es ist der Beginn der Feiern zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes am 24. August. Ein paar Kilometer weiter befindet sich der Amtssitz von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Weg zum Konferenzzimmer führt an Fotos von der Front im Donbass vorbei. Selenskyj, dunkler Anzug und Dreitagebart, kommt in aufgeräumter Stimmung zum Interview. Kurz vor der Moskaureise von Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Freitag findet er deutliche Worte zur deutschen Russlandpolitik und zu Nord Stream 2.
Herr Präsident, Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft an diesem Freitag den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau. Was sollte ihre Botschaft sein? Wolodymyr Selenskyj: Unser Interesse gilt vor allem Sicherheitsfragen und der Ukraine. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnet das deutsch-russische Gas-pipelineprojekt Nord Stream 2 als wirtschaftliche Angelegenheit, aber für uns sind die Sicherheitsaspekte vorrangig.
Die Kanzlerin hat in der Vergangenheit stets betont, dass sie am Dialog mit Putin festhalten wolle – egal, was passiere. War sie Ihrer Meinung nach zu weich gegenüber Moskau?
Merkel befindet sich in einer ziemlich schwierigen Position. Ihr ist an einem gesunden – ja, sogar herzlichen – Dialog mit Russland gelegen. Sie versucht ganz klar, die Beziehungen mit Moskau aufrechtzuerhalten. Und sie möchte vermeiden, dass es bei der Bundestagswahl am 26. September zu irgendwelchen Überraschungen kommt. Meine persönliche Sicht ist die: Die Kanzlerin vollführt einen sehr feinen Balanceakt. Für meine Begriffe ist er ein bisschen zu fein.
Sind Sie besorgt, dass die Kanzlerin am Freitag zuerst nach Moskau fliegt, um Ihnen dann zwei Tage später in Kiew die Ergebnisse auf den Tisch zu legen?
Nein, da bin ich ganz ruhig. Frau Merkel und ich sind über die Phase des gegenseitigen Umwerbens und miteinander Ausgehens hinaus. Ich bin sehr pragmatisch und kann meine Erwartungen zügeln. Mir geht es eher um zählbare Ergebnisse – auch wenn sie überschaubar sind. Ich hoffe, dass Merkel mit Putin irgendeine Art Vereinbarung erzielt, bevor sie in Kiew aufschlägt. Das könnten Garantien für die Ukraine sein. Zum Beispiel, dass Russland eine Mindestmenge an Gas zusagt, das durch die Pipelines der Ukraine geleitet wird.
Der Grünen-co-vorsitzende Robert Habeck hat im Mai gefordert, dass die Ukraine Defensivwaffen aus Deutschland erhält. Wünschen Sie sich das von mehr deutschen Politikern?
Angesichts der Vorstöße von Russland, das Schwarze Meer und das Asowsche Meer zu blockieren, erwarten wir, dass Deutschland in technischer Hinsicht unser Partner ist. Deutschland sollte uns etwa dabei helfen, die ukrainische Marine auszustatten. Wir haben die Forderungen von Habeck, Waffen an die Ukraine zu liefern, sehr begrüßt. Wir sind ein bisschen traurig, dass wir von den Regierungsparteien in Deutschland nicht die gleiche Unterstützung bekommen.
Knallharte Kritik an Putin, Nein zu Nord Stream 2, Waffen für die Ukraine: Wäre ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin der Grünen nicht Ihre erste Wahl?
(lacht) Es klingt höchst symbolisch: Die Wurzel meines Nachnamens bedeutet auf Deutsch „grün“. Aber ich will keine Kommentare zur deutschen Innenpolitik abgeben. Die Ukraine unterstützt jeden demokratisch gewählten Kanzler oder jede Kanzlerin. Ich erinnere mich an das Treffen mit Habeck im Mai. Er ist ein toller Typ, sehr offen und persönlich unkompliziert.
Sie haben von Us-präsident Joe Biden ein klares Ja oder ein klares Nein zum Nato-beitritt der Ukraine gefordert. Haben Sie es erhalten? Der Ukraine wird nicht nur der Nato-beitritt nicht erlaubt. Sie wird nicht einmal eingeladen. Das finde ich frustrierend. Das Ganze sendet ein mächtiges Signal an andere Beitrittskandidaten aus. Die Botschaft: Der Weg zur und in die Nato ist extrem schwierig. Das wiederum schafft ein Vakuum, das Russland sehr gern ausfüllt.
Die USA und Deutschland haben sich auf die Fertigstellung von Nord Stream 2 geeinigt. Fühlt sich die Ukraine verraten?
Ich bin natürlich überhaupt nicht glücklich über die Vereinbarung. Das Thema Nord Stream 2 steht bei meinem Treffen mit Us-präsident Joe Biden am 30. August in Washington ganz oben auf der Agenda. Aber es ist immer noch ein langer Weg. Auch wenn nur noch ein Prozent bis zur Fertigstellung von Nord
Stream 2 fehlt: Es ist eine Sache, die Gas-pipeline zu bauen. Eine andere ist die Inbetriebnahme, das braucht Zeit. Internationales Recht muss befolgt, internationale Energiestandards müssen eingehalten werden. Dazu kommen noch Versicherungen. Wir werden die Zeit nutzen, um unsere eigenen Interessen zu verteidigen. Selbst wenn die Pipeline fertig gebaut ist, gibt es noch ein großes Fragezeichen, ob sie auch in Betrieb gehen kann. Unsere Chancen, dass das Projekt doch nicht zum Zuge kommt, liegen bei 30 bis 40 Prozent.