„Oft sind Ämter nicht erreichbar“
Herzberg: Durchbruch bei der Digitalisierung steht noch immer aus
Erfurt. Thüringens Bürgerbeauftragter Kurt Herzberg spricht im Interview über Chancen und Gefahren der digitalen Verwaltung.
Herr Herzberg, hat Ihnen als Bürgerbeauftragter die viel gelobte Digitalisierung weniger oder mehr Arbeit beschert?
Positiv ist auf jeden Fall die so genannte orts- und zeitsouveräne Nutzung von Verwaltung. Egal, wo ich bin, ob am Strand, in der Badewanne oder auf dem Sofa, kann ich mit Behörden in Kontakt treten. Und zwar egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Das sind die unbestrittenen Vorteile aus Bürgersicht.
Und die Nachteile?
Die gibt es auch. Ich will es gleich an einem Beispiel festmachen: Die für die derzeit stattfindende Grundsteuerreform notwendigen Erklärungen dürfen beim Finanzamt nur digital abgegeben werden. Täglich wenden sich deshalb Menschen an uns, die sagen: Ich habe nicht die Technik und auch nicht die Kompetenz. Ich komme damit nicht klar.
Während der Pandemie hat Digitalisierung auch vieles erleichtert. Das stimmt. Aber Sie darf eben nicht in erster Linie als Arbeitserleichterung für die Behörde dienen.
Inwiefern?
Nehmen sie die Rentenversicherung Mitteldeutschland. Coronabedingt hat die ihre Beratungsgespräche auf digitale Termine umgestellt und will auch dabei bleiben, weil sich das Format aus deren Sicht bewährt hat. Selbst der Rentenantrag soll nicht mehr in einem persönlichen Gespräch ausgefüllt werden. Vergessen wird dabei, dass damit für manche Menschen eine unüberwindbare Hürde aufgebaut wird.
Betrifft das viele Menschen?
Ich habe mich jüngst mit Kollegen aus der EU getroffen. Dabei kam zur Sprache, dass in Frankreich jeder Fünfte ein sogenannter „digitaler Analphabet“ist. Und das gilt nicht nur für die Rentnergeneration, sondern auch für jüngere Menschen. Sie können sich entweder keinen digitalen Zugang leisten oder leben auf dem Land, wo es keine ausreichende Internetverbindung gibt. Oder sie wissen schlicht nicht, wie das alles funktioniert.
Sind die Zahlen auf Thüringen übertragbar?
Es betrifft sicher nicht die Mehrheit. Aber auch im Freistaat kann man schätzungsweise etwa 20 Prozent der Menschen als digitale Analphabeten bezeichnen. Ich weiß von Bürgern, die stehen vor dem Amt, aber können ihre Angelegenheit nicht klären, weil sie vorher digital einen Termin hätten ausmachen müssen. Aber das können sie einfach nicht.
Tendieren Verwaltungen dazu, sich abzuschotten?
Es besteht zumindest die Gefahr. Oft sind Ämter für Bürger nicht mehr erreichbar. Beispiele habe ich in meinem Jahresbericht genannt: Bei der Ausländerbehörde in Erfurt kann gar kein Termin mehr gemacht werden. Führerscheinstellen vergeben keine Termine mehr, um Führerscheine in europataugliche Ausweise umzutauschen. Angehende Heilpraktiker müssen teilweise Jahre auf Prüfungstermine warten. Das sind bedenkliche Entwicklungen,
die das Vertrauen in Verwaltung in erheblichem Maße stören.
Ist Digitalisierung Fluch und Segen zugleich?
So kann man es ausdrücken. Digitalisierung bedeutet auch Dematerialisierung des Vorgangs. Ich habe das Formular nicht mehr in der Hand. Ich habe es abgeschickt und weg ist es. Oft kann ich deshalb auch keinen Fehler mehr korrigieren. Ein auf Papier gedrucktes Formular lese ich eventuell noch mal am nächsten Tag, bevor ich es abgebe. Da sehe ich echte Barrieren.
Wie sollten diese Hürden aus Ihrer Sicht am besten beseitigt werden? Die Verwaltung muss ergänzende Hilfsangebote schaffen, um diese Menschen wieder ins Boot zu holen. Wir brauchen so etwas wie Bürgerservicestellen, wo Menschen zum einen die Technik vorfinden, die sie selbst nicht haben. Zum anderen muss auch eine Hilfestellung zum Ausfüllen der Formulare angeboten werden.
Braucht es dafür zusätzliche Mitarbeiter in den Behörden?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass der Personalmangel kein Argument sein darf, nicht zu handeln. Verwaltung muss für den Bürger da sein. Und dabei darf niemand auf der Strecke bleiben. Sonst führt es nur zu mehr Frust auf staatliches Handeln.
Apropos Frust, sind Behördenformulare inzwischen verständlicher, oder wenden sich diesbezüglich immer noch viele Bürger an Sie? Das ist ein dickes Brett, das wir ständig bohren. Corona hat geplante Projekte dazu über Jahre verzögert, weil dieses Thema in den Verwaltungen plötzlich nicht mehr prioritär war. Auch hier werden große Hoffnungen in die Digitalisierung gesetzt. Aber der Durchbruch ist bei weitem nicht erreicht. Im Gegenteil, manches ist sogar komplizierter formuliert als früher.