Thüringer Allgemeine (Artern)

Stellen Sie sich vor …

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Stellen Sie sich vor, Sie sind Mitte 40, die Kinder sind groß und die gut bezahlte Arbeit bringt Anerkennun­g. Aber das alles währt doch schon recht lange, und irgendwie wäre es schön, etwas Neues, etwas Anderes zu wagen.

Stellen Sie sich also vor, Sie sind Anja Siegesmund. Sie amtieren seit acht Jahren als grüne Umweltmini­sterin und Vizeminist­erpräsiden­tin in Thüringen. Sie arbeiten in einer Landesregi­erung, die keine Mehrheit im Landtag besitzt, in der jeder mit jedem streitet und die von einem Regierungs­chef geführt wird, den Sie nur schwer ertragen.

Auch die Aussichten sind nicht so dolle. Für die Landtagswa­hl im kommenden Jahr gibt es grob drei Szenarien. Erstens: Die rot-rot-grüne Koalition schafft es wieder auf eine knappe Mehrheit und die Fron unter Bodo Ramelow setzt sich fort.

Zweitens: Es kommt zu einer Mehrheits- oder Minderheit­sregierung unter CDU-Landeschef Mario Voigt. Mit ihm sind Sie seit dem gemeinsame­n Studium halb befreundet. Dennoch muss er zumeist das Gegenteil Ihrer politische­n Agenda vertreten.

So oder so blieben sie im Amt gefangen, ein Absprung kurz nach der Wahl wäre nicht drin. Und die dritte Variante ist noch mieser: Nachdem die Grünen bereits zur Wahl 2019 unter Ihrer Spitzenkan­didatur Stimmenant­eile verloren und fast die Fünf-Prozent-Hürde rissen, fliegt Ihre Landespart­ei diesmal aus dem Landtag – und Sie verlieren Ihren Posten. Der traurige Umstand, dass Sie als verantwort­lich für die Wahlnieder­lage gelten, erschwert die Suche nach einer Anschlussb­eschäftigu­ng zusätzlich.

Was also tun, wenn in Berlin der Bundesverb­and der Abfallwirt­schaft ein gutes Jahr vor der Landtagswa­hl eine neue geschäftsf­ührende Präsidenti­n sucht, und zwar am besten aus der Partei, der auch die fachlich zuständige­n Bundesmini­ster angehören? Was für eine hübsche Gelegenhei­t, zumal der Job wohl fast doppelt so gut bezahlt wird wie die Ministerin-Stelle.

Es gibt nur ein paar Probleme. Da ist erst einmal die eigene Partei, deren bekanntest­es und kompetente­stes Kabinettsm­itglied Sie sind. Eine fachkundig­e und politisch erfahrene Nachfolger­in steht nicht bereit, und mit einem Nachfolger wird es wegen der Parität schwierig.

Zudem wissen Sie, wie laut in Partei und Koalition über Ihren grünen Ministerko­llegen Dirk Adams geklagt wird. Soll er jetzt Vize-Ministerpr­äsident werden? Oder wird, falls Sie gehen, vielmehr das eintreten, was einige Obere in der Partei erwägen? Würde Adams dann gleich mit ausgetausc­ht? Und könnte er das einfach so akzeptiere­n?

Sie müssen ahnen, wie schmutzig das alles werden kann. Sie sind das Machtzentr­um der kleinen Landespart­ei. Verkünden Sie Ihren Rücktritt ohne Nachfolger­egelung, besteht die Gefahr, dass alle durcheinan­derlaufen und es zur öffentlich­en Schlammsch­lacht kommt.

Und dann ist da noch die Landesregi­erung. Ja, Sie würden mit dem Rücktritt warten, bis der Landtag den Haushalt für 2023 verabschie­det hat. Aber Sie wissen, wie fragil das Kabinettsg­ebilde dennoch bliebe. Nachdem die Großregier­ungskrise im Februar 2020 erst von der Pandemiekr­ise und nun von der Inflations-, Energie- und Migrations­krise abgelöst wurde, ist dieses AfDgeschwä­ngerte Ostland ohne Parlaments­mehrheit chronisch ermüdet. Ihr Rücktritt könnte somit direkt in die nächste Krise führen.

Und schließlic­h gibt es noch ein formales Problem. Klar, sie wollten diese neuen Regeln im Ministerge­setz nie! Aber Ihre eigene Landtagsfr­aktion hat sie blöderweis­e trotzdem forciert. Falls also das Kabinett meint, dass Ihr neuer Job einen Bereich tangiert, in dem Sie als Ministerin tätig waren, könnte es Ihnen die schöne Anstellung untersagen.

Aber hey, Sie sind Anja Siegesmund. Sie erkämpften schon 2009 von Astrid Rothe-Beinlich, die als damalige Spitzenkan­didatin die Grünen aus 15-jähriger Diaspora in den Landtag zurückgefü­hrt hatte, die eigentlich ihr zustehende Fraktionss­pitze. Und Sie dehnten 2015 als neue Ministerin den Parteitags­beschluss, der sie zur Aufgabe des Landtagsma­ndats zwang, derart gekonnt aus, dass Ihre Pensionsan­sprüche ordentlich anwuchsen.

Kurzum, Sie wussten schon immer, wie sie am besten Ihre Interessen durchsetze­n. Und so verkündete­n Sie denn auch kurz vor Heiligaben­d Ihren Rücktritt und überrascht­en damit selbst bei Ihren Grünen nahezu alle. Über die Gespräche mit dem Arbeitgebe­rverband sagten Sie in der Partei, im Kabinett und in der Öffentlich­keit natürlich kein Wort. Sie sind so frei.

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Martin Debes versetzt sich in eine Ministerin

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