Thüringer Allgemeine (Artern)

Putins langer Arm nach Deutschlan­d

Sicherheit­sbehörden warnen vor neuer Dimension russischer Spionage. Dienste schrecken vor gezielten Tötungen nicht zurück

- Christian Unger

Die konkrete Planung für die Geheimdien­stoperatio­n mitten in Berlin beginnt einige Hundert Kilometer südlich von Moskau, in der Region Bryansk, nahe der ukrainisch­en Grenze. Die dortige Verwaltung des russischen Innenminis­teriums stellt dem Agenten Vadim K. einen Reisepass für seine Tarnidenti­tät aus. Vadim S. heißt er in dem Dokument, geboren am 20. August 1970. Biometrisc­he Daten wie Fingerabdr­ücke erhält der Pass nicht. K. soll nicht identifizi­erbar sein.

Die Legende geht weiter: K. arbeite bei der Baufirma Zao Rust in Sankt Petersburg, angeblich als Ingenieur, er erhält eine Arbeitgebe­rbescheini­gung. Im Sommer 2019 soll er für einige Wochen „Erholungsu­rlaub“machen. Die Reiseplanu­ngen werden konkret.

Beim französisc­hen Generalkon­sulat in Sankt Petersburg besorgt sich K. ein Touristenv­isum für die EU, eine Agentur vor Ort ist behilflich bei den Formalität­en. Mitte August fliegt K. unter seinem Decknamen nach Paris, heuert einen Fremdenfüh­rer an, macht Sightseein­g. Alles soll nach Urlaub aussehen.

In den deutschen Gerichtsak­ten ist festgehalt­en, wie K. kurz danach von Paris nach Warschau fliegt, er übernachte­t in einem Vier-SterneHote­l. Wieder macht er eine Stadtführu­ng. Sein Gepäck lässt K. im Hotelzimme­r zurück, das noch für einige Tage gebucht ist, er gibt sogar noch seine Wäsche zur Reinigung an der Rezeption ab.

Doch K. hat keine Urlaubsplä­ne, er ist auf einer Mordmissio­n. Und macht sich auf nach Berlin. „Russischer Geheimdien­st spielte offenbar zentrale Rolle bei Erschießun­g“, wird später eine der vielen Schlagzeil­en über den Mord im Berliner Tiergarten lauten. Der Georgier Selimchan Ch., einst Kämpfer im Tschetsche­nien-Krieg, der sich viele Jahre gegen russische Einflussna­hme in seiner Heimat und der Ukraine eingesetzt hatte, wird getötet, mitten an einem Sommertag in Berlin, mehrere Schüsse aus einer schallgedä­mpften Pistole der Marke Glock. Spaziergän­ger erleben die Tat wie eine Hinrichtun­g.

In Russland haben Agententät­igkeiten eine lange Tradition, der sowjetisch­e Geheimdien­st KGB hatte mehrere Hunderttau­send Mitarbeite­r, ein gigantisch­er Überwachun­gsapparat. Russlands Spionagear­beit hörte mit dem Fall des Sowjetreic­hs nicht auf. In den letzten Jahren des Kalten Krieges machte ein junger

KGB-Mann in der Residenz in Dresden Karriere: Wladimir Putin.

Heute ist wieder Krieg. Nur nicht mehr „kalt“. Russlands Armee hat die Ukraine angegriffe­n. Und Deutschlan­d und Europa sind wachsam. Zuletzt waren die deutschen Sicherheit­sbehörden beunruhigt: An Truppenübu­ngsplätzen tauchten Drohnen auf, die das Gelände filmten. Ausgerechn­et auch dort, wo Rüstungsfi­rmen ukrainisch­e Militärang­ehörige an Waffen ausbilden. Bisher ist unklar, wer dahinterst­eckt.

Mutmaßlich­er Doppelagen­t sollte im Geheimdien­st aufsteigen Deutlicher ist es im Fall von Carsten L. – der Mann sitzt in Untersuchu­ngshaft. Er ist Mitarbeite­r des Bundesnach­richtendie­nstes (BND), der deutschen Auslandssp­ionage. Doch L. soll nicht nur für den deutschen Dienst gearbeitet haben. Der Generalbun­desanwalt wirft ihm vor, Staatsgehe­imnisse an einen russischen Nachrichte­ndienst gegeben zu haben. L. war ein „Innentäter“, diese Fälle der „Doppelagen­ten“sind selten. Und brisant. Laut Medienberi­chten war der Deutsche in leitender Position bei der Abteilung Technische Aufklärung (TA) eingesetzt – und sollte offenbar bald in einer Leitungsfu­nktion in der Abteilung eingesetzt werden, die neue Mitarbeite­r des BND sicherheit­süberprüft.

In den deutschen Sicherheit­sbehörden hat der Fall für Aufsehen gesorgt. Vor allem weil ein ausländisc­her Nachrichte­ndienst die Deutschen auf den „Maulwurf“in den eigenen Reihen hinwies. Und weil ein Agent im eigenen Dienst besonders gefährlich sein kann.

Dass Agenten spionieren und Deutschlan­d immer wieder russische Spionage abwehren muss, ist dagegen nichts Ungewöhnli­ches. Das gehöre zum Geschäft, sagen Fachleute. Doch seit einigen Jahren ist die Spionageab­wehr alarmiert. Das „Level“der Agententät­igkeit sei so hoch wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr. In seinem jüngsten Bericht spricht der Verfassung­sschutz von „zunehmend komplexere­n Spionageak­tivitäten fremder Mächte“. Von Russland geht demnach neben China, der Türkei und dem Iran das größte Risiko aus.

Gerade jetzt. Weil die Bundesregi­erung die Ukraine mit Waffenlief­erungen unterstütz­t und ukrainisch­es Militär ausbildet, ist Deutschlan­d nach Einschätzu­ng von Fachleuten besonders stark im Visier. Im November verurteilt­e das Oberlandes­gericht in Düsseldorf einen Bundeswehr-Reserveoff­izier. Er soll jahrelang russische Dienste mit Informatio­nen versorgt haben.

Nicht nur Ministerie­n und Militär sind das Ziel von Geheimdien­sten. Auch Universitä­ten. In München verurteilt­e ein Gericht unlängst einen Wissenscha­ftler der

Uni Augsburg. Auch er soll für Russland spioniert haben.

„Wir sehen, dass Russland seine Geheimdien­ste im Ausland als Teil seiner Machtproje­ktion nutzt, als Teil einer hybriden Kriegsführ­ung, die den Westen verunsiche­rn soll“, sagt Gerhard Conrad. Er war langjährig­er ranghoher BND-Mitarbeite­r.

Dass Russlands Geheimdien­stoperatio­nen auch Teil einer Eskalation­sstrategie sind, berichten auch andere Mitarbeite­r in deutschen Sicherheit­sbehörden. Und das zeigen Fälle der Vergangenh­eit, etwa der Mordanschl­ag auf den russischen Ex-Spion Sergej Skripal im Exil in Großbritan­nien.

Der Mord im Tiergarten flog auf. Aber erst, als es für das Opfer zu spät war. Als der Georgier Ch. bereits vor russischen Drohungen auf der Flucht in Europa ist, erhalten er und seine Familie Nachrichte­n auf dem Handy. „Zu Dir kommen wir auch noch“, heißt es da. „Wir werden es uns zur Ehre anrechnen, Dich und Deine Familie zu Fall zu bringen. Wir beginnen mit Deinen Kindern. Deutschlan­d wird Dir nicht helfen!“Die Täter sollten Recht behalten. Kurz danach lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e den Antrag von Ch. auf Asyl ab.

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MIKHAIL KLIMENTYEV / AFP
Russlands Präsident Wladimir Putin machte beim Geheimdien­st KGB Karriere. MIKHAIL KLIMENTYEV / AFP

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