Joel und der liebe Wolff
Bei der Handball-WM sind alle Augen auf Deutschlands Torhüter gerichtet
Vor dem Beginn der WM hatte Andreas Wolff Worte aneinandergereiht, die so gar nicht wie ein typischer Andreas-Wolff-Satz klangen. „Für mich ist es ein erfolgreiches Turnier, wenn wir als Mannschaft und als Individuen einen Schritt nach vorne machen.“Zurückhaltende Aussagen wie diese waren dem Torhüter der deutschen Handball-Nationalmannschaft in den Jahren zuvor selten über die Lippen gegangen. Da war eher von Medaillen die Rede, von Begegnungen auf Augenhöhe mit den Top-Nationen. Während die Kollegen sich in Tiefstapeleien überboten, knallte Wolff zuverlässig jene Sätze raus, die Handball-Deutschland hören wollte. Vor Ehrgeiz strotzend.
Der Andreas Wolff im Jahre 2023 ist ein anderer. Vorbei scheint die Zeit, in der sich der Europameister von 2016 mit seinem unbändigen Ehrgeiz selbst im Weg stand. Vorbei die Zeit, in der er sich abseits des Feldes abschottete. Kurz vor der WM sprach er noch einen Satz, der dies unterstrich: „Ich glaube, dass ich mich charakterlich weiterentwickelt habe – vom ungezogenen Rüpel zu jemandem, der lockerer zu dem Ganzen steht.“
Auf den Weg nach Kattowitz hatte sich das deutsche Team mit einem weiteren Torhüter gemacht. Mit Joel Birlehm, einem 25 Jahre alten Turnierneuling. Der sollte einspringen, wenn Wolff mal eine Pause braucht. Denn die Rangfolge war klar, Gislason hatte Wolff zur Nummer eins erklärt.
Was die Frage aufwirft: Braucht es eigentlich eine strenge Rangfolge? Am Sonntagabend war es nämlich Ersatzmann Birlehm, der im zweiten WM-Spiel gegen Serbien das 34:33 sicherte und somit dafür sorgte, dass Deutschland schon als Gruppensieger feststeht, bevor es an diesem Dienstag im letzten Vorrundenspiel gegen Algerien geht.
Birlehm war da, als die Not groß war. Wolff hatte sich im Auftaktspiel gegen Katar nach starker Leistung in den Schlussminuten an der linken Wade verletzt. Gegen Serbien wollte dem 31-Jährigen nicht wirklich viel gelingen, nach 25 Minuten übernahm Joel Birlehm. In den Testspielen
gegen Island hatte das deutsche Team noch große Vorsprünge verspielt, wenn Leistungsträger wie Wolff auf die Bank gingen. Nun aber spielte Birlehm stark. „Wir müssen uns bei Joel bedanken, dass er uns den Arsch gerettet hat“, sagte Spielmacher Juri Knorr grinsend. „Er hat bewiesen, warum wir ihn mitgenommen haben“, meinte Bundestrainer Alfred Gislason. Und Wolff? Der war ebenfalls glücklich. „Ich freue mich für ihn“, sagte Wolff. „Joel war ein sicherer Rückhalt.“
Es waren Momente, die unweigerlich Erinnerungen an 2016 hervorriefen. An jene EM, bei der sich der damals 24 Jahre alte und auch noch unbekannte Andreas Wolff plötzlich in einen Rausch spielte und bis zum Endspiel von Krakau zum Super-Wolff mutierte, dem neuen Star des Europameisterteams. Lange ist es her; in den Folgejahren war Wolff stets bei Großturnieren dabei, als Super-Wolff trat er jedoch selten auf. Vor seiner Wadenverletzung am Freitag schien der Keeper des polnischen Rekordmeisters KS Kielce jedoch wieder in großartiger Form. So wird es wohl darauf hinauszulaufen, dass Birlehm gegen Algerien wieder vermehrt zwischen den Pfosten steht, damit Wolff zum Hauptrundenbeginn wieder fit ist.
Birlehm selbst reagierte recht unaufgeregt auf das große Lob nach dem Sieg über Serbien. „Ich selbst würde nicht sagen, dass ich die Mannschaft gerettet habe. Das ist keine One-Man-Show.“Stimmt, denn gerade im Angriff hatte das deutsche Team gegen Serbien einen starken Eindruck hinterlassen. Die Abwehrleistung war diesmal schwächer als noch gegen Katar, dafür aber hatte Birlehm seine starken Momente zur rechten Zeit. Der gebürtige Herforder spielt seit einem Jahr für die Rhein-Neckar Löwen, einem Topteam der Bundesliga. Entsprechend groß ist das Selbstvertrauen. Birlehm sieht in Wolff weiterhin einen Mentor, er ist für jeden Tipp dankbar. „Ich kenne meine Rolle, ich bin schließlich kein Traumtänzer“, sagt Birlehm. Einer, der sein Team träumen lässt, ist er dieser Tage trotzdem.