Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)
Der jäh Erweckte
Zum 85. Geburtstag des Lehrers und Schriftstellers Edwin Kratschmer: Interview mit einem, der ein Mittel gegen die „Bestie Ich“gefunden hat
Weimar. „Wo warst du Adam? Ich war zu Welte. Was hast du tan? Ich hab gelehret. Was hast du lehret? Dass der Mensch ein Monster auch ist. Was hast du erreicht? Ich kam in Nöte.“So lautet ein literarisches Bekenntnis des Lehrers und Schriftstellers Edwin Kratschmer, der heute 85 wird. Sein Schriftstellerkollege und Freund Udo Scheer befragte ihn.
Welche Ereignisse, welche Erlebnisse waren so tiefgehend, dass sie Sie zum Lehrer, zum Lebenslehrer gemacht haben? Ich bin ein Leben und vier Staatsbürgerschaften lang immer wieder Lernender und Lehrender gewesen als Dorfschullehrer und Universitätsprofessor, als Lehrerbildner und Kunstvermittler, als Leiter von Poetenseminaren und Kurator internationaler Poetik-Vorlesungen. Da stauen sich Erfahrungen und Konflikte.
Ein Lehrer ist eine für Schüler wichtige Bezugsperson, der sie im Idealfall zu lebenslanger Neugier und Lernlust provoziert. Das macht die Schule auch zu einem Tatort, wo Leben trainiert werden muss. Doch selbst in offenen Gesellschaftssystemen bleibt der beste Lehrer noch ein Subalterner. Da kommt es zu Konfrontationen, Bredouillen und Aggressionen.
Darüber schrieb ich unter anderem in meinen Büchern. Das letzte ist noch druckfrisch: „Tintentage. Ausgewählte Erzählstücke“, herausgegeben von meiner Tochter. Darin zehn Berichte über Lehrerpersönlichkeiten, die in existenzielle Notlagen geraten sind.
Aber warum wurden Sie gerade Lehrer?
Ich komme noch aus der HitlerJugend-Zeit. Der Tod meiner Brüder, Vertreibung, Todesmarsch und Auschwitz-Schock haben mich jäh erweckt. Ein Kunstlehrer hat mich in der Nachkriegszeit zur Kunst gebracht, eine Magistra aus Dorpat zum Schreiben. So habe ich Malerei, Kunst und Literatur studiert. Aber damit war in dieser Notzeit keine Existenz aufzubauen. Das Land brauchte Lehrer und ich maß mich anmaßend an Prometheus: „Hier sitz‘ ich und forme Menschen / Nach meinem Bilde…“Ich zog mit meiner Frau in einen Waldort, wo es keine Lehrer gab, aber viele Flüchtlinge. Wir wollten Kriegs- und Nachkriegskindern zu Bildung verhelfen. Und ich malte und schrieb, weil ich mir doch selbst erst über vieles klar werden musste. Aber zu DDRZeiten hatten diese zumeist erzählerischen Reflexionen keine Publizierungschance. Ich begann erst nach meinem 70. Lebensjahr mit deren Überarbeitung und Veröffentlichung.
Kratschmer in Unterwellenborn war jahrelang für den künstlerischen Nachwuchs republikweit eine bekannte Adresse. Die Jenaer Uni-Bibliothek ist heute im Besitz einer Jugendlyriksammlung mit hunderttausend Texten, angelegt von Ihnen, Ihrer Frau und Hannes Würtz, und der Freistaat Thüringen besitzt eine Kunstsammlung, initiiert von Ihnen, Ihrer Frau und Ihrer Tochter.
Diese Sammlungen haben sich aus unserer Tätigkeit als Herausgeber der Jugendlyrik-Anthologien „Offene Fenster“und als streitbare und umstrittene Galeristen ergeben. „Humanum“und „Monster Mensch“– das sind zwei Ihrer zentralen Begriffe. Sie haben Bücher darüber geschrieben, wie kommen Sie auf diese Antinome?
Der Mensch ist von seinen historischen Anfängen an ein Monster, ob uns diese Erkenntnis gefällt oder nicht. Wer Berge von Toten gesehen hat, wer von Genoziden und Gaskammern weiß, der macht sich keine Illusionen über Menschenmögliches. Dennoch gibt es gegen diese potenzielle Bestie Ich, die wohl in uns allen zu lauern vermag, nur eine Chance: sich ein Humanum zu erarbeiten. Das macht tägliche, stündliche und oft vergebliche Mühe. Ich nenne deren Widersacher „Die Zehn Todsünden“. Dabei habe ich die sieben klassischen Todsünden – Hochmut, Habgier, Perversion, Wut, Selbstsucht, Neid und Ignoranz – um die „Sünden“Verrat, Manipulation und Terror erweitert, sie in unserem Alltag ausfindig und zum Thema meiner Romane und Erzählungen gemacht.
Welchen Anspruch stellen Sie an sich? Welchen Anspruch hatten Sie mit 30, mit 70, heu- te? Gibt es so etwas wie eine „Weisheit des Alters“? Subjektive Ansprüche und Erfahrungen stehen zueinander in umgekehrtem Verhältnis. Mit dem Anwachsen der Erfahrung schrumpfen die Erwartungen. Das ermöglicht ein verwunderliches Bild von unserer Wandlung. Lebt man lange genug, sterben mit zunehmender Hinfälligkeit die Illusionen rapide weg. Doch selbstkritische Selbstdenker bleiben Skeptiker. Im Roman „Schattentanz“zerfasern zuletzt alle Visionen. Zum Schluss gibt es nicht einmal mehr einen Punkt.
Was würden Sie Nachgeborenen mit auf den Weg geben? Zuerst möchte ich ihnen Brechts Exiltext „An die Nachgeborenen“ins Poesiealbum schreiben. Dann käme die Bitte, nicht müde zu werden, sich von sich und der Welt ein Bild zu machen, die Wirklichkeit an einer Humanwelt zu messen und neugierig an deren Vervollständigung zu arbeiten. Doch das hört sich schon wieder an wie Lehrerlatein. Vielleicht liest wer irritiert in meinen Büchern. Irritation kann auch ein kreativer Erreger sein. Stuttgart spielt Geraer Uraufführung
Die im Auftrag von Theater&Philharmonie Thüringen entstandene und in Gera uraufgeführte Kammeroper „Alice im Wunderland“von Johannes Harneit wird an der Staatsoper Stuttgart nachgespielt. Die Premiere in Stuttgart war am 2. Juni. Fast alle geplanten 15 Vorstellungen sind ausverkauft.
Baumängel kosten Millionen Stararchitekt Santiago Calatrava muss tief in die Tasche greifen: Das Oberste Gericht in Madrid hat den 64-Jährigen wegen Mängeln am Kongresspalast der nordspanischen Stadt Oviedo zur Zahlung eines Schadenersatzes von 2,96 Millionen Euro verurteilt. Damit wurde Calatravas Berufung abgelehnt.
Geldsegen für Programmkinos Fast 50 Programmkinos in Berlin und Brandenburg können sich über einen kleinen Geldsegen freuen. Sie erhalten in diesem Jahr den Kinoprogrammpreis. Das Medienboard schüttet mehr als 430 000 Euro aus. Das höchste Preisgeld von je 15 000 Euro erhalten das Thalia-Filmtheater Potsdam, die Parklichtspiele Buckow und das Union Filmtheater.
Kolbe-Museum zeigt Rodin Berlins Georg-Kolbe-Museum wird nach achtmonatiger Sanierung wiedereröffnet. Dazu wird ab heute die Ausstellung „Auguste Rodin und Madame Hanaku. Der französische Bildhauer und die Emanzipationsgeschichte der japanischen Tänzerin“gezeigt. Zu sehen sind rund 50 Plastiken und Zeichnungen aus dem Musée Rodin in Paris.
Pohl wird Chefredakteurin Die frühere „taz“-Chefin Ines Pohl (49) wird Chefredakteurin der Deutschen Welle (DW) und folgt auf Alexander Kudascheff (65). Bis 2015 leitete sie die „tageszeitung“(„taz“) in Berlin.