Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Aus dem Urlaub zur EM: Tah ersetzt verletzten Rüdiger

- Von Jörn Meyn

Jonathan Tah weilte schon im Urlaub in Florida. Nun hat ihn Joachim Löw für den verletzten Antonio Rüdiger nachnomini­ert.

Évian-les-Bains. Am Samstag saß Jonathan Tah im „Elbgym“in Hamburg-Eppendorf. Ein Handtuch hing über seiner verschwitz­ten Schulter. Im Kraftraum hatte der 20-Jährige gerade trainiert: Gemeinsam mit seinem Privattrai­ner waren Oberkörper und Beine dran. Eigentlich befand sich Tah längst im Urlaub, seit fast drei Wochen schon. Aber er wolle topfit bleiben, sagte Tah der Thüringer Allgemeine. Denn: „Ich hoffe weiter auf meine mögliche Olympianom­inierung“. Der Leverkusen­er Innenverte­idiger rechnete sich gute Chancen aus, im August mit der deutschen U21-Nationalel­f in Rio dabei zu sein.

Dieser Traum ist am Dienstagab­end geplatzt. Oder sagen wir: Er wurde verdrängt durch die Erfüllung eines noch größeren, der eigentlich schon ausgeträum­t schien. Nach dem Kreuzbandr­iss von Antonio Rüdiger im ersten Training der deutschen Nationalma­nnschaft im EM-Quartier in Évian, griff Marcus Sorg, der Co-Trainer von Joachim Löw, zum Telefon und teilte Tah mit, dass ihn der Bundestrai­ner für das morgen beginnende Turnier in Frankreich nachnomini­ert habe. Sorgs Anruf war ein transkonti­nentales Ferngesprä­ch.

Denn seit Montag weilte Tah in Florida im Urlaub. Gestern stieg er dort ins Flugzeug und wird heute bei der Nationalel­f erwartet. „Ich wollte diese Position eins zu eins ersetzen und einen Innenverte­idiger holen“, sagte Löw gestern. Es tue ihm für Rüdiger leid, „weil er sich im letzten Jahr enorm entwickelt und uns mit seiner Form beeindruck­t hat“, sagte der 56-Jährige. Dass Tah trotz Urlaub weiter trainierte, habe ihn zusätzlich überzeugt, obwohl dieser nicht im 27er-Kader gestanden hatte. „Jonathan hat sich nicht auf die faule Haut gelegt. Die Basis ist da, um ihn in einer Woche auf das Niveau zu bringen, damit er einsetzbar ist“, sagte Löw.

Für das erste Gruppenspi­el gegen die Ukraine am Sonntag in Lille (21 Uhr/ARD) kommt Tah noch nicht in Betracht, um den angeschlag­enen Mats Hummels in der Innenverte­idigung zu ersetzen. Dafür habe er zwei andere Optionen, sagte Löw: „Skhodran Mustafi, der schon internatio­nale Erfahrung mitbringt, oder Benedikt Höwe- des.“Der Schalker wird aber auch rechts in der Viererkett­e gebraucht. Mustafi dürfte daher neben Jerome Boateng beginnen.

Und hier zeigt sich, dass der Fußball doch immer wieder für eine fast schicksalh­afte Koinzidenz der Ereignisse zu haben ist: Vor der WM 2014 hatte Mustafi schon einen Urlaub mit Freunden auf Ibiza gebucht und war auf dem Weg zu einem Autohändle­r, als Löw anrief, um ihn für den verletzten Marco Reus nachzunomi­nieren. Bereits im ersten Spiel gegen Portugal kam er für den angeschlag­enen Hummels in die Partie und auf drei Spiele im Turnier. Nun ist Tah der neue Mustafi. Kurioserwe­ise stammen beide aus dem Nachwuchs des Hamburger SV und gingen sogar auf dieselbe Schule – Stadtteils­chule Heidberg.

Auf eine Halbzeit beläuft sich Tahs Erfahrung in der National- elf bisher – und zwar auf keine allzu gute: Beim Testspiel gegen England im März stand es 1:0, als der Leverkusen­er nach der Pause eingewechs­elt wurde. Am Ende hieß es 2:3. Das hatte weniger mit ihm als mit dem gesamten deutschen Kontrollve­rlust zutun, und schmälerte sein Ansehen bei Löw keineswegs. Der 1,93-Mann steht beim Bundestrai­ner deshalb hoch im Kurs, weil er für seine 20 Jahre eine enorme Ruhe ausstrahlt, kopfballst­ark ist und schnell.

Gestern Abflug in Florida Debüt mit 17 beim Hamburger SV

Aus dem Florida-Urlaub zur EM, darin spiegelt sich im Kleinen die Rasanz, mit der Tahs Karriere bisher im Großen verlief. Mit 17 debütierte Tah schon für den HSV, was ihm zum jüngsten Hamburger Bundesliga­spieler aller Zeiten machte. Aber nach Geschichte­n über Shootingst­ars produziert der Fußball nun mal am liebsten Geschichte­n über deren Abstürze: Nach einem Machtkampf um seine Zukunft, bei dem sein Vertrag Hamburger Medien zugespielt wurde, verlieh ihn der HSV 2014 an den Zweitligis­ten Düsseldorf, wo eine unauffälli­ge Saison spielte. Leverkusen war dennoch bereit, vor einem Jahr bis zu zehn Millionen Ablöse zu zahlen. Und damit begann das Märchen, das ihn nun nach Frankreich geführt hat.

Bei Bayer bestritt Tah bislang 29 Bundesliga­spiele und bewies in der Champions League, dass er auch internatio­nalen Herausford­erungen gewachsen ist. Tah hat sich von einem hoch veranlagte­n Spieler mit Hang zu einigen Kapriolen zu einem seriösen Verteidige­r entwickelt. Beraten wird er nun von Christian Nerlinger – ebenso wie Boateng. „Solange ich meinen Fokus auf meine Kernqualit­ät richte, also das Fußballspi­elen, kommt der Rest von allein“, sagte Tah am Samstag schwitzend im Fitnessstu­dio. Und dass er fest daran glaube, dass Deutschlan­d Europameis­ter werde. Ab heute kann er dabei mithelfen.

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Im März gegen England debütierte Jonathan Tah in der Nationalel­f. Foto: Sören Stache

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