Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Melancholi­sch im Morgentau

Der Schriftste­ller Martin Walser wird 90 und ist längst ein Klassiker – aber einer, dem die Tinte nicht eintrockne­t

- Von Wolfgang Hirsch

Überlingen. zum Zuge. Der Levetzow. Inzwischen hat er dem Goethe-Roman „Ein liebender Mann“das sterbende Pendant gegenüberg­estellt und „Mein Jenseits“literarisc­h voll ausgeschri­tten. Wann immer die lesende Welt glaubt, es sei sein finales Buch gewesen, folgt immer wieder ein neues. Übers Alter zu schreiben, hält ihn, der vor Jahren schon ins Religiöse transzendi­erte, offensicht­lich vital.

Als Chronist des deutschen Mittelstan­ds überragt der famose Stilist die Updikes und Franzens dieser Welt im hiesigen Format der gewesenen Nachkriegs­republik bei Weitem. Nur ist halt das Schreiben sein Lebenselix­ier. Er kann einfach nicht aufhören. „Ich bin glücklich, wenn mir der Tod den Kugelschre­iber aus der Hand schlägt“, bekundete er vor circa fünf Jahren. Und was hat er für Kämpfe gefochten, durchlitte­n! Ja, das Leiden am Leben war ihm stets eine Lust – schon früh, in der Anselm-Kristlein-Trilogie beispielsw­eise. Wie ein Sisyphos-Stein lastet das Alterswerk auf Walsers Schriftste­ller-Nimbus. Wer wüsste heutzutage schon noch, dass der in Wasserburg geborene Sohn eines Bahnhofsga­stwirts und Kohlenhänd­lers, der so tief von seiner Heimat und Landschaft geprägt wurde („Ein springende­r Brunnen“) und in Tübingen Germanisti­k studierte (Dissertati­on über Kafka), mal ein Avantgardi­st und streitbare­r Linker war. Natürlich gehörte er fast von Beginn an zur Gruppe 47 und protegiert­e beim Süddeutsch­en Rundfunk die Freunde. Später indes galt Walser als Deutschnat­ionaler. Das war, als er 1998 in seiner aufrichtig­en, gründlich missversta­ndenen Paulskirch­enrede zum Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s davor warnte, das Holocaust-Gedenken drohe in seinen Augen zum gebetsmühl­enartigen Ritual zu verkommen. Erst recht, als er 2002 mit „Tod eines Kritikers“literarisc­h bittere Rache an seinem vermeintli­chen Erzfeind Marcel ReichRanic­ki nahm und in der FAZ als Antisemit denunziert wurde.

Es lohnt sich, mit diesem intellektu­ellen Literatur-Methusalem, der vor zehn Jahren – also zu früh! – seinen Vorlass ins Marbacher Archiv übergab, die Stationen der Republik noch mal zu bereisen. Zu den spießer-verbiester­ten „Ehen in Philippsbu­rg“vielleicht, auf den Spuren des Weltschmer­z-Experten zur „Gallistl‘schen Krankheit“, zum – herrlich verfilmten – erotisch-novellisti­schen Reigen „Ein fliehendes Pferd“und ganz sicher in die Wendezeit auf Besuch bei Alfred Dorn, dem verschrobe­nen Archivar familiärer Erinnerung in der „Verteidigu­ng der Kindheit“(1991).

Das war Martin Walsers womöglich schönstes Buch, schon rückblicke­nd, aber noch glutvoll-eifernd. So wie – bis heute unterschät­zt – „Finks Krieg“, als er mit samtener Ironie die kafkaeske Mechanik eines Bürokratie­apparates sezierte.

Ihre schönsten Momente feiert seine Prosa stets da, wo er aus der Banalität des Alltäglich­en, scheinbar Gewöhnlich­en in ein poetisches Schweben gerät. Einem soziologis­chen Seismograf­en, der mal mit süffisante­r, mal zorniger Handbewegu­ng den Schein von der Moral wegwischt und eigentlich für eine Existenz in der Öffentlich­keit nicht geschaffen war. Nie schaut er auf uns herab, stets wollte er Teil der Gemeinscha­ft sein. Nun ist unsere Gesellscha­ft mit ihm gealtert.

Was wünscht man also zum 90? – Dass er wach bleibt und dass die Tinte nicht eintrockne­t, ad ultimo!

Scheinbar Banales in ein Schweben gebracht

 ??  ?? Martin Walser hat jetzt sogar sein großes Vorbild Goethe, was die Lebensjahr­e betrifft, weit hinter sich gelassen. Foto: Felix Kästle
Martin Walser hat jetzt sogar sein großes Vorbild Goethe, was die Lebensjahr­e betrifft, weit hinter sich gelassen. Foto: Felix Kästle

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