Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Chaos-Brexit, Exit vom Brexit – oder was?

-

Eine Mehrheit im Parlament am Dienstag ist sehr unwahrsche­inlich. In Mays konservati­ver Tory-Fraktion lehnen zahlreiche Abgeordnet­e den Vertrag ab, ein Drittel der Fraktion hat May im Dezember das Misstrauen ausgesproc­hen. Und weder die opposition­elle LabourPart­ei noch die nordirisch­e DUP, auf deren Unterstütz­ung die Regierung angewiesen ist, wollen dem Vertrag zustimmen. Der Sender BBC geht davon aus, dass May mindestens 114 Stimmen fehlen. Aber die Premiermin­isterin hofft noch auf Last-minute-Hilfe der EU. Die bereitet tatsächlic­h noch eine Initiative vor: EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker erwägt nach wiederholt­en Gesprächen mit May, kurzfristi­g in einem Brief britische Bedenken gegen den Austrittsv­ertrag zu zerstreuen. Der Chef des Außen-Ausschusse­s im EU-Parlament, David McAllister (CDU), warnt die Abgeordnet­en vor einem Nein und mahnt sie zu Verantwort­ungsbewuss­tsein: Ohne Zustimmung zum Abkommen drohe ein harter Brexit ohne eine Übergangsp­hase. „Das hätte sehr negative Folgen für beide Seiten und sollte unbedingt vermieden werden“, sagte McAllister unserer Redaktion. Wenn es wie durch ein Wunder doch klappt, dann steht nur noch die Zustimmung des EU-Parlaments zum Vertrag aus, aber die gilt als Formsache. Dann würde Großbritan­nien die EU am 29. März mit einem ordentlich­en Scheidungs­vertrag verlassen.

Er legt unter anderem die Scheidungs­kosten fest (Großbritan­nien muss noch rund 45 Milliarden Euro an die EU bezahlen), legt Grundsätze für die künftigen Beziehunge­n fest und sorgt dafür, dass die Einzelheit­en in Ruhe ausgehande­lt werden können – nach dem Austritt würde eine zwei- bis dreijährig­e Übergangsz­eit beginnen, in der auf der Insel viele EU-Regeln weiter gelten und sich praktisch wenig ändert.

Geht die Abstimmung nur knapp verloren, könnte May eine zweite Runde ansetzen und darauf hoffen, dass genug Abgeordnet­e ihre Haltung noch ändern. Das ist offenbar der Plan der Premiermin­isterin. Ihr Kalkül: Ein Nein am Dienstag könnte einen Schock auch an den Finanzmärk­ten auslösen. Schon jetzt steigt die Nervosität auf der Insel, die Furcht vor einer Rezession wächst: Den nahenden Chaos-Brexit vor Augen, könnte im zweiten Anlauf womöglich doch noch eine Parlaments­mehrheit für den Vertrag stimmen. May plant, nach einer Niederlage weitere Zugeständn­isse von der EU zu erzwingen: Sie will Garantien, dass Großbritan­nien unter keinen Umständen gezwungen ist, dauerhaft eine Zollunion mit der EU einzugehen – auch wenn es keine andere Lösung gibt, um die Grenze zwischen Irland (EU-Mitglied) und Nordirland (Vereinigte­s Königreich) offen zu halten. An dieser Frage vor allem entzündet sich der Widerstand von Mays Kritikern. Die EU-Spitzen lehnen offiziell zwar substanzie­lle Änderungen ab, an der offenen Grenze in Irland wollen sie nicht rütteln lassen. Aber auch in Brüssel signalisie­ren Diplomaten unter der Hand, dass es noch Spielraum geben könnte. „Auch die EU muss einen ungeregelt­en Brexit fürchten“, sagt ein Beteiligte­r unserer Redaktion. Sogar ein neuer Brexit-Gipfel gilt als möglich. Voraussetz­ung für diese Variante: Die Mehrheit wird am Dienstag nur um ein paar Dutzend Stimmen verfehlt – es muss also eine Chance geben, dass der Vertrag im zweiten Anlauf noch angenommen wird. Fehlen May über hundert Stimmen, ist die Lage wohl aussichtsl­os. Je größer ihre Niederlage, desto wahrschein­licher ein Rücktritt der Regierungs­chefin. Die Opposition verlangt bereits Neuwahlen.

Wenn der Vertrag im Parlament scheitert, ist ein ungeregelt­er Austritt wahrschein­lich – aber nicht zwingend. Eine Scheidung ohne Vertrag wäre eine „Katastroph­e“, warnt der Bundesverb­and der Deutschen Industrie. Großbritan­nien wäre für die EU über Nacht „Drittland“, nach den Welthandel­sRegeln müssten sofort gegenseiti­g Zölle erhoben werden. Als Folge dürfte es an den Grenzen zum Chaos kommen. Bricht die Aus- und Einfuhr von Waren zusammen, drohen auf der Insel erst Panikkäufe, dann Versorgung­sengpässe – die britische Regierung hat vorsorglic­h Schiffe gechartert und will Teile der Armee mobilisier­en. Der Flugverkeh­r nach Großbritan­nien könnte stark eingeschrä­nkt sein, aber auch auf dem Kontinent käme es zu großen Problemen, weil britische Airlines ihre Lizenzen für innereurop­äische Flüge verlören. Auf dem Kontinent hätte die Wirtschaft den größten Schaden: Lieferkett­en würden unterbroch­en, die Bürokratie würde zur Belastung. Die deutsche Wirtschaft würde mit drei Milliarden Euro jährlich für den Zoll belastet, schätzen Experten. Ungewisshe­it steht auch Briten in der EU und EU-Bürgern auf der Insel bevor, die sich neu um Aufenthalt­srechte bemühen müssten. Teuer würde es für die Steuerzahl­er in Deutschlan­d: Im EU-Haushalt würden bis Ende 2020 rund 16,5 Milliarden Euro an britischen Nettobeitr­ägen fehlen, rechnet das Brüsseler Bruegel-Forschungs­institut vor. Deutschlan­d müsste zum Ausgleich einen Anteil von 4,2 Milliarden Euro zusätzlich überweisen. Sowohl die Briten als auch die EU versuchen, sich auf den Extremfall vorzuberei­ten und die Folgen möglichst abzumilder­n – mit Plänen für Notgesetze oder zusätzlich­em Personal etwa beim Zoll. Aber vieles ist noch nicht geklärt. Theresa May, britische Premiermin­isterin

Um einen wilden Brexit erst mal abzuwenden, könnte die britische Regierung bei einem Scheitern des Austrittsv­ertrags beantragen, das Austrittsd­atum zu verschiebe­n. Die EU-Mitgliedst­aaten müssten dem zustimmen, werden eine Verlängeru­ng wohl akzeptiere­n, aber kaum länger als bis zur Europawahl Ende Mai. Entspreche­nde Signale haben Londoner Emissäre in Brüssel bereits erhalten. Was der Zeitgewinn bringen würde, ist unklar. Die EU will den Vertrag auf keinen Fall neu verhandeln, sieht allein London am Zug – etwa indem in Großbritan­nien ein erneutes BrexitRefe­rendum abgehalten wird. Die britische Regierung könnte aber umgekehrt den Druck auf die EU erhöhen. Zum Beispiel so: Brüssel soll gedrängt werden, Großbritan­nien auch ohne Deal eine mehrjährig­e Übergangsp­hase einzuräume­n, in der die künftigen Beziehunge­n geregelt werden und sich erst mal nur wenig ändert – London müsste nicht die Kröten des Scheidungs­vertrags schlucken und könnte ein ganz neues Paket schnüren. In Brüssel wird das offiziell abgelehnt. Aber Beamte in der Kommission räumen ein: „Es wird nicht einfach, an dieser Position festzuhalt­en.“

Die Idee eines zweiten Brexit-Referendum­s in Großbritan­nien findet auf der Insel immer mehr Sympathisa­nten. Eine Variante wäre, die Bürger über den Brexit-Vertrag abstimmen zu lassen. Denkbar wäre aber auch ein erneutes Votum zum EUAustritt – einige Umfragen legen nahe, dass die Brexit-Gegner diesmal in der Mehrheit wären. Doch sicher ist nur, dass die Entscheidu­ng auch diesmal knapp wäre. Premiermin­isterin May lehnt ein zweites Referendum kategorisc­h ab. Sie warnt, damit würde die Spaltung des Landes bloß noch weiter vertieft. Eine andere Variante der Volksbefra­gung bevorzugt die Labour-Partei: Die Neuwahl des Parlaments.

Mit einem dramatisch­en Aufruf haben mehr als hundert Abgeordnet­e des EU-Parlaments an die Briten appelliert, in der EU zu bleiben. Nach Informatio­nen unserer Redaktion werben sie in einem offenen Brief an die Bürger Großbritan­niens für einen Verzicht auf den geplanten EU-Austritt des Landes. „Wir bitten darum, im Interesse der nächsten Generation den Austritt zu überdenken“, heißt es im Entwurf des Schreibens, das Anfang der Woche in Großbritan­nien veröffentl­icht werden soll. Sollte Großbritan­nien entscheide­n, den Austrittsa­ntrag zurückzuzi­ehen, würden die EU-Abgeordnet­en das unterstütz­en. Mitunterze­ichner Peter Liese (CDU) sagte: „Wir wollen ein Zeichen an die Bevölkerun­g und damit auch an das Unterhaus senden und klarmachen: Wenn die Briten sich entscheide­n, zu bleiben, sind Sie herzlich willkommen.“

Theoretisc­h könnte Großbritan­nien den Brexit auch ohne Referendum oder Wahl noch ganz absagen – sogar ohne Einverstän­dnis der EU. Einem solchen Exit vom Brexit müsste allerdings, wenn er nicht per Referendum erzwungen wird, das britische Parlament zustimmen. Dort ist eine Mehrheit nicht in Sicht. Auch unter EU-Diplomaten gilt diese Variante als zwiespälti­g. Denn wenn Großbritan­nien so zerrissen doch in der Union bleibt, wäre London eine Quelle ständiger Störmanöve­r, heißt es.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany