Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)
„Heiße Abschiebungen“erlaubt
Nach einem europäischen Urteil sind Zurückweisungen von Migranten am Grenzzaun legal
Sechs Meter über dem spanischen Boden hockt Ibrahim Abebe auf dem Metallzaun. Seit Stunden harrt er dort aus, gemeinsam mit rund 70 anderen Migranten. Am frühen Morgen hatten sie ihr Glück versucht, sie waren Hunderte. Viele wurden von der marokkanischen Polizei gefasst.
Nur einige Dutzend kamen durch. Doch jetzt ist auch ihre Flucht am Ende, hier oben auf dem Zaun. Sechs Meter unter ihnen postieren sich spanische Polizisten der Guardia Civil. Die Beamten stellen eine Leiter an den Zaun, einer nach dem anderen klettert hinunter, auch Abebe, der Mann aus dem westafrikanischen Mali. Nacheinander führt die Polizei die Männer in Handschellen durch die Tür im Zaun zurück nach Marokko – und übergibt sie den dortigen Beamten. Es ist August 2014.
„Heiße Abschiebungen“nennen die Spanier ihre Politik am Grenzzaun. Eine Zurückweisung der Migranten – allerdings ohne Prüfung der Personalien. Und ohne die Chance, dass sie Asyl beantragen können.
Ibrahim Abebe heißt eigentlich anders. Seinen wirklichen Namen möchte der Mann aus Mali nach
Angaben seines Anwalts nicht nennen. Doch Abebes Geschichte ist kein Einzelfall an Europas Außengrenze. Seit 2015 wachsen die Zäune. Eigene Recherchen weisen auf vergleichbare Ad-hoc-zurückweisungen an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien hin. Der „Spiegel“berichtete unlängst über Fälle an der türkisch-griechischen Grenze, innerhalb eines Jahres sollen an der Landgrenze knapp 60.000 Migranten illegal von der griechischen Polizei in die Türkei zurückgebracht worden sein. Unsere Redaktion berichtete über eine Familie aus Syrien, die bereits in Straßburg gegen die Asylpolitik auf der Balkanroute geklagt hatte. Auch sie wurde zurückgedrängt.
Der Fall von Ibrahim Abebe stand nun vor Gericht – und damit auch Europas Grenzpolitik. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatten die Flüchtlinge mithilfe der Berliner Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) gegen diese mutmaßliche „Kollektivabschiebung“geklagt.
Doch die Richter am EGMR entschieden nun: Das Vorgehen von Spanien ist kein Verstoß gegen die Menschenrechte. Sondern legal. Es ist ein Urteil, so Prozessbeteiligte, das von der Grenze Spaniens bis an die anderen Grenzzäune Europas wirken dürfte: bis nach Kroatien, Ungarn, Polen, Italien. Und Deutschland.
Um die komplizierte Lage im Grenzraum zu verstehen, muss man sich das Recht anschauen: „Illegale Push-backs“, so nennen Menschenrechtler diese Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Eu-außengrenzen. Nach Eu-norm und Menschenrechtskonvention haben Migranten ein Anrecht auf eine individuelle Prüfung ihrer Personalie und ihres Antrags auf Schutz. Doch die bleibt bei den „Push-backs“aus. Keine der
Personalien von Abebe und den anderen wurde von spanischen Polizisten geprüft.
Der Gerichtshof für Menschenrechte verteidigt das Vorgehen Spaniens. Migranten wie Ibrahim Abebe hätten sich „selbstverschuldet“in eine „illegale Situation“gebracht. Bedeutet: Die Flüchtlinge hätten keinen Anspruch auf rechtmäßige Asylverfahren, da sie selbst keinen rechtmäßigen Weg gewählt hätten.
Menschenrechtler kritisieren das Urteil. „Die Argumente der Richter sind fernab jeglicher Realität an Europas Grenzzaun“, sagte Ecchr-generalsekretär Wolfgang Kaleck unserer Redaktion. „Es gibt faktisch keinen Zugang für Migranten etwa aus Mali oder der Elfenbeinküste, um legal in Spanien Asyl zu beantragen. Das zeigen die Asylstatistiken.“
Spanien verweist dagegen darauf, dass immer wieder Migranten eine reguläre Einreise oder Asyl beantragen. So etwa 21 Menschen in der Zeit von Januar bis August 2014. Die Zeit, in der Tausende wie Ibrahim Abebe in den Lagern vor dem Grenzzaun zu Spanien ausharrten. Das Gericht, so heißt es im Urteil, könne aber nicht den spanischen Staat dafür verurteilen, dass marokkanische Polizisten Migranten von den Grenzübergängen verjagen.