Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Kunst braucht keinen Kunstverst­and

Erfurter Ausstellun­g präsentier­t „Arnold Odermatt – Polizist, Photograph, Schweizer“

- Von Michael Helbing

Ein VW Käfer liegt schief und verbeult im Wasser, wie zur Ruhe gebettet. Sein Fahrer, der mit dem Auto von der Straße abkam und im Vierwaldst­ättersee endete, ist verschwund­en. Er hat den Unfall kaum überlebt. Hinter dem Wrack und vor wolkenverh­angenen Bergen schwimmt ein Schwan, weiter hinten eine Autofähre. Links, am Ufer, ein Mensch mit Hund unter einer großen Trauerweid­e.

Dieses minutiös ins Licht und in den Schatten gesetzte und durchkompo­nierte Bild aus Buochs anno 1965 erzählt von der Zeit nach einem Ende, in der alles stehen geblieben scheint und sich doch spürbar veränderte. Dieses Bild, inzwischen eine Ikone der Fotografie, ist ein Kunstwerk. Sein Schöpfer aber verstand sich die längste Zeit seines Lebens durchaus nicht als Künstler. Erst im hohen Alter wurde er dazu gemacht; seitdem kokettiert er munter damit.

Arnold Odermatt, inzwischen 94 Jahre alt, war seit 1948 Polizist im abgeschied­enen Schweizer Kanton Nidwalden. Weil er nicht zeichnen konnte, überredete er seine Dienststel­le zu tun, was heutzutage gang und gäbe ist: Unfallorte mit der Kamera zu dokumentie­ren.

Seit 2001 internatio­nal mit Ausstellun­gen präsent

Fotografie wurde seine große Obsession, der er nicht nur immer und überall akribisch, sondern nahezu pedantisch folgte. Neben den Dienstbild­ern entstanden mit einer Rolleiflex immer auch private Varianten: „ungewöhnli­che Motive in einer sonst sehr aufgeräumt­en Schweizer Landschaft“, so Daniel Blochwitz.

Der aus Ilmenau stammende und in der Schweiz lebende Kurator verantwort­et in der Erfurter Kunsthalle jetzt seine zweite Odermatt-ausstellun­g. Seit 2001 im Schweizer Pavillon der Biennale Venedig 32 Karambolag­e-bilder des fotografie­renden Polizisten hingen, gab es internatio­nal viele solcher Ausstellun­gen. Mehrere große Bildbände gibt es auch.

Daran ist der Sohn schuld: Filmemache­r Urs Odermatt, der ein schwierige­s Verhältnis zum Vater hat. „Wir mögen uns beide nicht, auf Augenhöhe“, sagt er. Er floh einst vor dem Wehrdienst nach Deutschlan­d und wurde steckbrief­lich gesucht. Das war der große Bruch. Erst als Journalist und Fotograf begegnete er dem Vater wieder: weniger als Sohn denn als „Komplize“.

Das Verhältnis war nun „nicht mehr privat“, wurde aber intim.

1993 drehte Urs Odermatt den Spielfilm „Wachtmeist­er Zumbühl“, in dem Michael Gwisdek gleichsam seinen Vater spielte. Im Zuge dessen durchforst­ete er das heute 60.000 Negative umfassende Archiv Arnold Odermatts. „Was willste denn mit dem alten Krempel“, soll der gefragt haben. Doch der Sohn sah mit profession­ellem Blick die künstleris­che Bedeutung eines Werkes, das ein Autodidakt gänzlich ohne Einflüsse und Vorbilder schuf, „in einer geschlosse­nen Gesellscha­ft“. Ein Künstler ohne Kunstverst­and.

Wenn überhaupt, verstünde sich der Vater als Künstler nur „in den Arbeiten, die wir nicht zeigen“, so Urs Odermatt. Das wären dann wohl Postkarten­motive mit Schönwette­r-landschaft­en. Der Vater sei stets harmoniesü­chtig und konfliktsc­heu gewesen. Es ging ihm immer um Schönheit.

„Arnold Odermatt – Polizist, Photograph, Schweizer“heißt die Ausstellun­g, die an diesem Samstag eröffnet wird. Die Schwarzwei­ß- und auch Farbbilder aus der Berliner Galerie Springer entstammen Werkgruppe­n, die Urs Odermatt zusammenst­ellte: neben „Karambolag­e“heißen sie „Im Dienst“, „In zivil“oder „Feierabend“. Arnold Odermatt knipste nicht, er fotografie­rte: jedes seiner Motive ein einziges Mal. Dafür brauchte er mitunter Stunden, bis jedes Detail stimmte. Mitunter blieb eine Straße, nach Unfällen, dann eben länger gesperrt.

Odermatts inszeniert­e Bilder erzählen Geschichte­n

Die Bilder sind allesamt Inszenieru­ngen der Wirklichke­it und gehen über sie hinaus. Sie erzählen Geschichte­n, um die es dem Autor gar nicht zu tun war. Ihm ging es um Licht und Linien. Sein, gewiss auch untertreib­endes, Credo: „Ein gutes Bild muss scharf sein.“Das setzt aber, so zeigt die Ausstellun­g, einen geschärfte­n Blick voraus.

Seinen allererste­n Film zerrte er einst aus der Boxkamera, um zu sehen, ob schon was drauf war. Also war dann nichts mehr drauf; er war belichtet. Dem 91-Jährigen passierte das 2016 versehentl­ich noch einmal. Beide liegen jetzt in einer Vitrine und stehen für Anfang und Ende: aus dem Nichts gekommen und dorthin zurückgeke­hrt, so der Sohn.

Daneben lüftet Filmproduz­entin Jasmin Morgan gleichsam den Vorhang zu Odermatts winziger, aber mit Geräten und Utensilien vollgestop­fter Dunkelkamm­er: Sie hat sie in einer Installati­on rekonstrui­ert.

Die Ausstellun­g spielt schon im Titel, so Direktor Kai Uwe Schierz von den Erfurter Kunstmusee­n, mit Klischees, die sich vor den Bildern überprüfen lassen. Und sie fragt nach den „Beiträgen genialer Autodidakt­en zur Fotografie des 20. Jahrhunder­ts“.

Sie blickt, in der Kunsthalle, aber auch auf unseren Begriff von Kunst. Sie kann offenbar ein Ergebnis sein, obwohl sie nie das Ziel gewesen ist.

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FOTO: ARNOLD ODERMATT Ein Bild aus der Arnoldoder­matt-serie „Karambolag­e“, entstanden 1968 in Stansstad in der Schweiz.

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