Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Die Renaissanc­e der Nachtzüge

Der Nightjet aus Österreich ist beliebt, auch in Deutschlan­d. Aber warum? Eindrücke aus einer Nacht auf Schienen

- Von Leon Scherfig

Balance ist alles. Es ist sechs Uhr morgens, draußen ist es noch dunkel. Der Steward des Schlafwage­ns 301 legt noch eine Scheibe Bergkäse auf das Frühstücks­tablett. Der Kaffee schwappt im Pappbecher fast über. Noch zwei Brötchen drauf und weiter geht es. Schlafwage­n-steward Altansukh Tuvshinjig­jid, den die Kollegen nur Suki nennen, balanciert das Frühstücks­tablett aus der Küchenkabi­ne in den Gang hinaus. In den dunklen Glasscheib­en spiegelt sich der 37-Jährige: österreich­ischer Janker, die Frisur korrekt gescheitel­t, Schlips und ein Lächeln auf den Lippen. Er hat in den vergangene­n neun Stunden mehr als rund 600 Kilometer zurückgele­gt, eingestieg­en ist er in Hamburg, vorbei an Göttingen, Mannheim und Freiburg. Nächste Station: Basel. Letzter Halt: Zürich.

Seit 5.30 Uhr ist Steward Suki wach. Da hat er das Hochbett im Dienstabte­il verlassen und ist in seine Dienstunif­orm geschlüpft. Es ist erst seine vierte Fahrt. Für ihn ist das Nachtzugge­schäft noch neu. Der Zug, mit dem Suki durch Deutschlan­d fährt, stammt von den Österreich­ischen Bundesbahn­en (ÖBB). Erst im Januar haben die ÖBB eine neue Verbindung eingeweiht, die von Wien über Nürnberg und Köln nach Brüssel führt. Und die Bundesbahn­en bauen das Nachtzugne­tz in Europa weiter aus. Denn anders als die Deutsche Bahn sind die ÖBB überzeugt: Die Leute wollen gern im Nachtzug fahren.

„Die Fahrgastza­hlen steigen stetig“, sagt Öbb-sprecher Bernhard Rieder. Die Deutsche Bahn dagegen hat ihre Nachtzüge im Dezember 2015 komplett ausrangier­t, nachdem sie allein im Jahr 2015 31 Millionen Euro Verlust in diesem Geschäft gemacht hatte.

Die Fahrgastza­hlen steigen auch in Deutschlan­d

Der Vorabend. 21.15 Uhr, irgendwo zwischen dem Startbahnh­of Hamburg und Hannover. „Wann wollen Sie geweckt werden?“, fragt Nightjet-steward Suki die Passagieri­n Hilke Ricklefs in Abteil Nummer neun. Der Zug nimmt eine leichte Kurve, der diensthabe­nde Mitarbeite­r hält sich am Türrahmen fest und notiert die Weckzeit. Das Licht auf dem Gang von Waggon 301 ist gedimmt.

Ricklefs reist gemeinsam mit ihrem fünfjährig­en Sohn Raik. Die beiden liegen zusammen auf einem Hochbett in einem Dreierabte­il und blättern durch ein Janosch-buch, „A Letter for a Tiger“. Sie kommen aus Amrum und fahren über Basel bis nach Marseille. Der Vater arbeitet bei der Seenotrett­ung SOS Méditerran­ée und ist in Frankreich für ein paar Wochen an Land. Sie sehen sich selten.

„Viel Platz ist ja nicht gerade“, sagt die Mutter. In ihrem Dreierabte­il

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