Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

„Die Situation ist nicht akzeptabel“

Der neue Eu-kommissar für humanitäre Hilfe, Janez Lenarčič, über das Elend der Flüchtling­e und mangelnde Solidaritä­t in Europa

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Es ist für die reiche EU ein peinliches Versagen, unter welch katastroph­alen Umständen Flüchtling­skinder auf den griechisch­en Inseln versorgt werden. Seit 1. Dezember ist der Slowene Janez Lenarčič Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschu­tz. Wir trafen ihn in Berlin zum Interview.

Herr Lenarčič, Sie sind Eu-kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschu­tz. In Flüchtling­slagern auf den griechisch­en Inseln leben Tausende Kinder und Familien im Schlamm. Wie kann das sein?

Janez Lenarčič: Die Situation der Flüchtling­e auf den griechisch­en Inseln ist nicht akzeptabel. Und es hätte schon längst etwas passieren müssen, um den Menschen zu helfen.

„Ich bin offen für eine weitere Millionenh­ilfe für Griechenla­nd.“Janez Lenar i Eu-kommissar

Aber Europa tut seit Jahren nichts. Es sind nur eine Handvoll Ärzte für Tausende Menschen im Einsatz, die Zelte sind provisoris­ch um das Lager gebaut, viele Kinder sind krank.

Die Lager auf den griechisch­en Inseln gehören zur EU. Das ist richtig. Aber die Verbesseru­ng der humanitäre­n Lage in den Camps liegt somit vor allem in der Verantwort­ung der griechisch­en Regierung. Die EU hat Griechenla­nd in den vergangene­n Jahren etliche Millionen Euro bereitgest­ellt, um das dortige Asylsystem und die Versorgung der Flüchtling­e zu verbessern. Es geht darum, Strukturen aufzubauen, also Ankunftsze­ntren, Asylverfah­ren und auch Verteilung­smechanism­en. Nur 2015 bis 2018, als Hunderttau­sende auf den Inseln in der Ägäis strandeten, hat die EU auch mit humanitäre­n Gütern geholfen. Jetzt gibt es andere Instrument­e, die greifen.

… und dennoch ist die Situation nicht besser geworden seit 2015. Im Gegenteil.

Es ist auf jeden Fall eine Möglichkei­t, dass die Europäisch­e Union die griechisch­en Behörden mit einem neuen Paket der humanitäre­n Hilfe unterstütz­t, um die aktuelle Krisensitu­ation zu bekämpfen. Ich bin offen für eine weitere Millionenh­ilfe für Griechenla­nd, wenn die Mitgliedst­aaten sich dafür entscheide­n. Die EU darf das Land nicht alleinlass­en. Es ist eine Frage der Solidaritä­t der europäisch­en Staaten, die griechisch­en Behörden zu unterstütz­en. Zugleich ist mir wichtig zu sagen: Griechenla­nd ist verantwort­lich, die Lage auf den griechisch­en Inseln zu verbessern.

Die europäisch­e Solidaritä­t hat seit 2015 schwer gelitten. Mehrere, vor allem osteuropäi­sche Staaten weigern sich, Geflüchtet­e aufzunehme­n.

Es gibt Staaten in der EU, die sind der Meinung, dass jeder Flüchtling, der an Europas Außengrenz­e anlandet, sofort innerhalb der EU verteilt werden soll. Dann gibt es andere Staaten, die nichts von Flüchtling­en wissen wollen. Diese Länder wollen höchstens finanziell bei der Bewältigun­g der Flüchtling­skrise helfen. Und es gibt Staaten, die bereit sind, Flüchtling­e aufzunehme­n. Aber nur unter bestimmten Bedingunge­n. Das heißt zum Beispiel, dass nur die Migranten umverteilt werden, die eindeutig internatio­nalen Schutz benötigen.

Ihr eigenes Land, Slowenien, hat seit der großen Asylkrise 2015 einige Hundert Geflüchtet­e aufgenomme­n.

Migrations­management ist Aufgabe des Kommissars für Migration. Aber natürlich bedauere ich sehr, dass die EU bisher keine einheitlic­he Position gefunden hat. Es ist ganz zentral, dass die europäisch­e Integratio­n fortschrei­tet. Es ist wichtig, dass die Mitgliedst­aaten der EU an einem Strang ziehen, nicht auf Basis einer gemeinsame­n Sprache oder Kultur, sondern auf Basis der Rechtsstaa­tlichkeit, die die EU zusammenhä­lt. Ich befürchte, dass wir ohne die Rechtsstaa­tlichkeit und ohne die EU wieder in eine Zeit rücken, wie wir sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts erlebt haben.

Sehen Sie die Gefahr eines Zerreißens von Europa?

Die größte Gefahr besteht, wenn die grundlegen­den Werte unserer Europäisch­en Union angegriffe­n werden, vor allem von extrem rechter Seite. Das müssen wir verhindern. Und die verfehlte Asylpoliti­k der EU seit 2015 war einer der Gründe für ein Erstarken der radikalen Rechten in Europa.

Menschen aus Afrika fliehen aus unterschie­dlichen Gründen: Sie haben keine Perspektiv­e, sie sind vom Klimawande­l oder Krieg betroffen. Bisher konnte Europa die Krisen nicht bewältigen. Was ist kluge Hilfe?

Wir müssen humanitäre Hilfe in Krisenregi­onen in Nahost oder Afrika vor allem auf drei Grundsätze­n aufbauen: Neutralitä­t, Unparteili­chkeit und Unabhängig­keit. Vor allem ist zentral, dass wir präzise schauen, wo Hilfe benötigt wird. Und dann müssen wir dort hingehen.

Was meinen Sie damit konkret?

Wir helfen der Türkei mit mehreren Milliarden Euro, um die Flüchtling­e aus Syrien zu versorgen. Wir helfen sogar direkt in Syrien, in Gebieten, die vom Regime kontrollie­rt werden. Das ist sehr genau geplante und gezielte Hilfe. Dabei ist uns Unabhängig­keit von allen politische­n

Parteien vor Ort wichtig. Die Hilfe der EU in Krisengebi­eten bleibt neutral.

Experten warnen davor: Die Folgen des Klimawande­ls sind nicht mehr zu stoppen. Kommen neue Krisen auf Europa zu?

Es ist zu spät, alle negativen Folgen des Klimawande­ls noch zu verhindern. Einige gravierend­e Folgen wie der Anstieg des Meeresspie­gels werden auf uns zukommen. Wir müssen uns in der EU auf diese neue Klimakrise vorbereite­n. Es wird auch in Europa häufiger zu Überflutun­gen, zugleich aber in anderen Regionen zu massiver Trockenhei­t kommen. Oder Überflutun­gen und Dürren nacheinand­er an demselben Ort.

Was kann die EU noch tun?

Wir müssen uns auf neue Krisen in Europa vorbereite­n. Aber wir müssen auch Regionen wie der Sahelzone in Afrika helfen, die am meisten von den Folgen betroffen sind. Nur ein Beispiel: Europa muss etwa die Landwirtsc­haft umstellen und widerstand­sfähige Pflanzen anbauen, die Trockenhei­t besser aushalten. Auch der Schutz vor Überflutun­gen ist zentral für künftiges Krisenmana­gement. Dabei muss die EU etwa in neue Technik beim Bau von Deichen investiere­n. Es ist noch nicht zu spät, um uns für die Klimakrise zu rüsten.

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FOTO: DPA PA / ANGELOS TZORTZINIS Eine Familie mit Kindern im griechisch­en Flüchtling­slager Moria. Viele sind krank, leiden unter Kälte und Hunger.

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