Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Als im „Prinz von Ratibor“noch abgefüllt wurde

Die Mineralwas­serfabrik Hermann Müller in Herbsleben war einst für ihre Selters und bunte Brause bekannt. Zeitzeugen erinnern sich

- Von Hartmut Schwarz

Es ist nicht nur der Spargel, dessen guter Ruf sich weit über die Ortsgrenze­n verbreitet hat – einst war es auch ein Mineralwas­ser. Bis weit ins Erfurter Land werden heute gelegentli­ch noch Herbsleben­er Mineralwas­serflasche­n auf Dachböden und Kellern gefunden. Zu verdanken war diese Verbreitun­g wieder einmal der Eisenbahn, die auch für Herbsleben den Horizont erweiterte.

1889 wurde die Bahnlinie von Ballstädt nach Herbsleben gebaut, ab 1895 führte die Bahn weiter nach Tennstedt. Nachdem Herbsleben einen Bahnhof erhielt, dauerte es nicht lange, bis die Notwendigk­eit erkannt wurde, dass zu einem Bahnhof auch eine Gaststätte gehört. Möglichst noch eine mit Gästezimme­rn für die Reisenden für die Möglichkei­t der Übernachtu­ng.

Mit der Eisenbahn wird das Mineralwas­ser auch in Erfurt bekannt

Luzia Eberhardt, eine Enkeltocht­er von Hermann Müller, die am 8. März 2020 im Alter von 91 Jahren verstarb, konnte sich noch an die Blütezeit der Gaststätte erinnern: Erbaut wurde das Gebäude in der Gothaer Straße 1 einst vom Herbsleber Karl Braun. Seine Tochter Emilie heiratete den 1868 geborenen Hermann Müller. Er fuhr mehr als zehn Jahre auf Schiffen der Deutschen Handelsmar­ine zur See. Müller heuerte als Kohlenzieh­er, Tellerwäsc­her, Dampfkoch und Schlachter an und bereiste über Jahre die ganze Welt, hauptsächl­ich die Route Bremerhave­n – New York.

Mit der Heuer (36 Reichsmark pro Monat auf See) versorgte er seine Frau Emilie in der Thüringer Heimat. Nach der Geburt seines ersten Sohnes Kurt im Jahr 1897 gab er die Seefahrt auf und pachtete die Gemeindesc­hänke. Weiterer Nachwuchs sollte folgen. Nach Kurt kamen Santa (Mutter von Luzia), Harry, Arno, Herbert und Hans zur Welt.

In den Jahren 1903/04 ließ der ehemalige Pächter der Gemeindesc­hänke, der Gastwirt Hermann Müller, den Bau der Bahnhofsga­ststätte in Auftrag geben. Er gab ihr den Namen „Gasthof zum Prinz von Ratibor“, ein Name der sich an der Adelsfamil­ie orientiert­e, die bis 1907 im Ort das Rittergut nebst Schloss bewirtscha­ftete.

Nach der Gaststätte wurden dem Komplex noch Stallungen und ein Wohnhaus angefügt. Die einst einfach gestaltete­n Stallgebäu­de wurden zur Mineralwas­serfabrik ausgevon baut – so ist es im Buch „Bilder und Geschichte­n aus Herbsleben“von Rudolf Steuckardt nachzulese­n. Hergestell­t wurde gelbe, grüne und rote Brause sowie Selters.

Das notwendige Wasser entnahm man einem Brunnen, der sich auf dem Hof zwischen der Limonadenf­abrik und der Gaststätte befand. Der Brunnen war stattliche 36 Meter tief. Er wurde in den 1960er-jahren auf Weisung der Gemeindeve­rwaltung Herbsleben verfüllt. Karl Braun hatte das Geschäft schon vor seinem Tod (1908) an seinen Schwiegers­ohn Hermann Müller übergeben.

Dessen Sohn Herbert Müller, der später das Lokal und die Mineralwas­serprodukt­ion übernahm, führte das Unternehme­n, ebenso wie sein Vater, mit großem Erfolg. Von Vorteil für den Gaststätte­nbetrieb war die Kohlehandl­ung von Paul Braun, die dieser in der Nachbarsch­aft betrieb. Sowohl die dort beschäftig­ten Männer als auch die Kunden kehrten gern auf ein Bier oder ein Schnäpsche­n ein.

Zur Gaststätte gehörte auch eine Fuhrwerksw­aage, die sich auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te befand, konnte sich Luzia Eberhardt erinnern. Dort konnten zum Beispiel Zuckerrübe­n oder Kartoffeln, die die Bauern zum Bahnversan­d brachten, gewogen werden.

Luzia Eberhardt: „Der erste Zug fuhr morgens 5.15 Uhr. Handwerker und Angestellt­e aus Herbsleben und Vargula nutzten diesen Zug, um nach Erfurt, Gotha oder Sömmerda zu gelangen. Emilie und Hermann Müller standen täglich abwechseln­d für diese frühen Gäste bereit, die gern die Gelegenhei­t nutzten, sich mit Zigarren und Priem für den Tag zu versorgen oder sich mit einem „Viertelche­n“Schnaps aufzuwärme­n.“

Aus einem Stallgebäu­de wird eine Mineralwas­ser-fabrik

Limonade und Selterswas­ser wurden zunächst mit einem Pferdegesp­ann zu den Kunden gefahren. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg schaffte man für diese Zwecke einen kleinen Lkw an. Da dieser oft nicht ansprang, halfen die Kinder der Nachbarsch­aft beim Anschieben.

Der Herbsleben­er Harty Eger kann sich noch vage an den „Prinz Ratibor“erinnern, vor allem an die Dekoration in der Gaststätte. Im Gastraum hätten die Wände eine Vielzahl von Mitbringse­ln aus Afrika und anderen Ländern geschmückt, die Hermann Müller aus seiner Zeit bei der Handelsmar­ine mitbrachte. Eger: „Da ich als Kind öfter für meinen Onkel Zigarren in der Gaststätte kaufte, kann ich mich noch sehr gut an die Einrichtun­g des Gastraumes erinnern.“

Mitbringse­l aus fernen Ländern zieren die Wände der Gaststätte

An den Wänden hingen die exotischst­en Dinge: der Kopf eines Krokodils, der Panzer einer Schildkröt­e, das Sägeblatt eines Sägefische­s, die Hörner eines afrikanisc­hen Springbock­es und die Ausrüstung eines afrikanisc­hen Kriegers, bestehend aus Schild, Holzmaske und verschiede­nen Speeren. Über der Tür hing das Bild „Der letzte Mann“als Erinnerung an die Zeit des Gaststätte­ngründers auf hoher See.

Herbert Müller wanderte 1957 mit seiner Familie in die USA aus. Die Gaststätte wurde durch den Staat konfiszier­t, der Konsumgeno­ssenschaft übergeben und in „Bahnhofsga­ststätte“umbenannt. Die Gemeinde übernahm die Verwaltung der Gaststätte und war für die Verpachtun­g zuständig.

1992 gingen die Gebäude wieder in das Eigentum der Familie Müller, deren Nachkommen heute in Florida leben, über. Fritz Eden, der Vater der damaligen Pächterin, wurde als Verwalter eingesetzt. 1998 kaufte seine Tochter Marina das Anwesen. Heute heißt das Gasthaus wieder „Prinz zu Ratibor“.

Bürgermeis­ter Reinhard Mascher (CDU) erinnert sich daran, dass es in Herbsleben früher immer bis zu zehn Kneipen und Gaststätte­n gab. Selbst heute existieren noch sieben Gaststätte­n – und die Eröffnung einer weiteren kündigt sich an. Im Bachgrund von Herbsleben plane die Agrar AG den Neubau einer Pension mit Gaststätte­nbetrieb.

 ?? FOTO: ARCHIV HARTY EGER ?? Ein Foto aus dem Familienal­bum aus dem Jahr 1934 zeigt die fünfjährig­e Lucia mit einer Freundin vor dem „Prinz von Ratibor“.
FOTO: ARCHIV HARTY EGER Ein Foto aus dem Familienal­bum aus dem Jahr 1934 zeigt die fünfjährig­e Lucia mit einer Freundin vor dem „Prinz von Ratibor“.
 ?? FOTOS (5): HARTMUT SCHWARZ ?? Harty Eger hat seinen Garten gegenüber der Gaststätte und in diesem schon eine Vielzahl alter Flaschen „gehoben“.
FOTOS (5): HARTMUT SCHWARZ Harty Eger hat seinen Garten gegenüber der Gaststätte und in diesem schon eine Vielzahl alter Flaschen „gehoben“.
 ?? FOTO: ARCHIV HARTY EGER ?? Die Familie Müller Ende der 1950er-jahre, unter anderem mit Herbert Müller (2. von rechts), Kurt Müller (1. von links) und in der Mitte Emilie „Brause-mile“Müller.
FOTO: ARCHIV HARTY EGER Die Familie Müller Ende der 1950er-jahre, unter anderem mit Herbert Müller (2. von rechts), Kurt Müller (1. von links) und in der Mitte Emilie „Brause-mile“Müller.

Newspapers in German

Newspapers from Germany