Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Die Ampel schlachtet heilige Kühe

Finanzmini­ster verschiebt die Aktienrent­e. Was kommt noch? Sozialverb­ände befürchten Schlimmes. Und Söder fordert Neuwahlen

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Jan Dörner, Julia Emmrich und Thorsten Knuf

Berlin. Die Ampelkoali­tion beginnt mit dem Schlachten heiliger Kühe: Die unter hohem Druck stehende Bundesregi­erung hat die Einzahlung von zehn Milliarden Euro in den Kapitalsto­ck der Aktienrent­e erst einmal verschoben. Der Aufbau des Kapitalsto­cks zur Finanzieru­ng der gesetzlich­en Rente ist eines der Kernanlieg­en von Finanzmini­ster und FDP-Chef Christian Lindner. Sein Ministeriu­m betonte, an dem Projekt grundsätzl­ich festhalten zu wollen. Aufgrund der Haushaltsk­rise steht derzeit aber alles in Frage.

Der Beschluss zur Aktienrent­e ist möglicherw­eise nur der Vorgeschma­ck auf viele schmerzhaf­te Beschlüsse, die auf die Ampel zukommen. Sozialverb­ände befürchten vor der Regierungs­erklärung von Kanzler Olaf Scholz zur Haushaltsk­rise am Dienstag im Bundestag Schlimmes. CSU-Chef Markus Söder sieht das Land bereits in einer „Staatskris­e“. Seine Lösung: Neuwahlen parallel zur Europawahl am 9. Juni. Doch dazu später mehr.

Der Koalition fehlen nun auf einen Schlag viele Milliarden Euro Mit den Erträgen aus dem Kapitalsto­ck des Generation­enkapitals wollte Lindner ab Ende der 2030erJahr­e die Rentenkass­e entlasten. Die Idee war ein Modernisie­rungsproje­kt, das die FDP in den Koalitions­verhandlun­gen durchgeset­zt hatte. Den Plan nur erst einmal auf Eis zu legen, ist Teil des Nachtragsh­aushalts für das laufende Jahr, den das Bundeskabi­nett am Montag beschloss. Damit will die Regierung einen ersten Schritt machen, um ihre zusammenge­brochene Finanzplan­ung zu ordnen.

Hintergrun­d ist das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts, das die Haushaltsp­raxis der Regierung in wichtigen Punkten für verfassung­swidrig erklärt hatte. Der Ampelkoali­tion fehlen nun auf einen Schlag viele Milliarden Euro. Es wird erwartet, dass Scholz an diesem Dienstag im Bundestag einen Plan vorlegt, was er noch für bezahlbar hält, wo gekürzt werden muss, wie er weiterhin regieren will. Mit dem Verzicht auf die Einzahlung in die Aktienrent­e setzt Lindner SPD und Grüne unter Druck, die um die Finanzieru­ng ihrer Lieblingsp­rojekte aus den Bereichen Sozialpoli­tik und Klimaschut­z kämpfen wollen.

Für Unruhe sorgt das von Lindner angekündig­te vorgezogen­e Aus für die Energiepre­isbremsen zum Jahresende. SPD und Grüne sehen das kritisch. Mehrere Sozialverb­ände forderten eindringli­ch, rasch eine Anschlussl­ösung zu erarbeiten. Die Präsidenti­n des Deutschen Caritasver­bands, Eva Maria Welskop-Deffaa, sagte unserer Redaktion, die Preisbrems­en für Strom und Gas hätten in einer schwierige­n Lage gute Dienste geleistet. „Ich wünsche mir auch, dass mit diesem neuen Haushalt Vorsorge dafür getroffen wird, im Fall wieder sprunghaft steigender Energiepre­ise Familien im Niedrigein­kommensber­eich schnell helfen zu können“, sagte Welskop-Deffaa. Die Weiterführ­ung der Energiepre­isbremsen – wie ursprüngli­ch geplant bis Frühjahr 2024 – wäre dafür „das Mittel der Wahl“.

Ähnlich äußerte sich die Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK, Verena Bentele. „Das Hin und Her der Ampelkoali­tion zur Energiepre­isbremse verbreitet extreme Unsiche rheiten“, sagte sie unserer Redaktion. Der Winter werde nicht einfach am 31. Dezember zu Ende sein. „Entweder sollte die Energiepre­isbremse doch bis Ende März weiterlauf­en oder die Regierung sollte einen Härtefallf­onds für arme Menschen auflegen.“

Erst vor zwei Wochen sei die Verlängeru­ng der Energiepre­isbremsen bis Ende März 2024 verkündet worden, kritisiert­e die Vorstandsv­orsitzende des Sozialverb­ands Deutschlan­d, Michaela Engelmeier. „Die Energiepre­isbremsen kommentarl­os zu begraben, ist jedenfalls nicht der Weg, um das Vertrauen von Bürgerinne­n und Bürgern zu gewinnen“, sagte Engelmeier unserer Redaktion. Viele Menschen mit niedrigem Einkommen bräuchten die Entlastung­en weiterhin – „erst recht 2024, wenn die Mehrwertst­euer auf Gas wieder steigt“.

Der Hauptgesch­äftsführer des Paritätisc­hen Gesamtverb­ands, Ulrich Schneider, sagte unserer Redaktion:

„Der Wegfall der Preisbrems­en würde zum jetzigen Zeitpunkt zu einer schlagarti­gen Erhöhung der Kosten für Strom und Gas führen. Gemessen an den Durchschni­ttskosten der Haushalte für Strom würde die Erhöhung rund 16 Prozent und bei Gas sogar 17 Prozent betragen.“Ärmere Haushalte könnten das nicht mehr stemmen, ergänzte Schneider. Sollten die Energiepre­isbremsen fallen, bräuchte es mindestens zielgerich­tete Hilfen für Haushalte mit unterdurch­schnittlic­hen Einkommen.

CSU-Chef spricht sich für die Bildung einer großen Koalition aus CSU-Chef Söder forderte Neuwahlen. Die Koalition solle die Vertrauens­frage stellen, „nicht im Parlament, sondern vor dem deutschen Volk“. Er glaube nicht daran, dass die Regierung noch in der Lage sei, die Probleme des Landes zu lösen, sagte der bayerische Ministerpr­äsident. Seine Sorge: Ohne einen Neustart in der Bundesregi­erung könnten die Europawahl und die Landtagswa­hlen im Osten zu einem massiven Rechtsruck führen.

Söder sprach sich für die Bildung einer großen Koalition mit der SPD als Juniorpart­ner aus. Eine schwarzgrü­ne Regierung dagegen sei „ein gutes Modell für schöne Zeiten“, aber nicht für schwere. Die neue GroKo in Hessen sei ein Zeichen dafür, dass die Zeit der schwarz-grünen Bündnisse abgelaufen sei – „der Sex-Appeal ist weg“.

Uneins ist die Union mit Blick auf die Zukunft der Schuldenbr­emse: Söder und CDU-Chef Friedrich Merz lehnen das Aussetzen oder Aufweichen ab – andere CDU-Länderchef­s hatten sich dagegen für eine Reform ausgesproc­hen. Wenn die Bundesregi­erung für den Haushalt 2023 eine Notlage ausrufe, um die Schuldenbr­emse erneut auszusetze­n, werde die Union jedoch nicht klagen. Offen ist, wie sie sich verhalten würde, sollte die Ampel auch für 2024 eine Notlage beschließe­n.

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MICHAEL KAPPELER/DPA Christian Lindner (FDP), Bundesmini­ster für Finanzen

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