Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Wo das Recht an den Rand gedrängt wird

Reichsbürg­er und Neonazis, Verbrecher­banden und Extremiste­n suchen in Deutschlan­d nach rechtsfrei­en Räumen

- Von Ulrich Kraetzer, Gerd Niewerth, Frank Preuß und Christian Unger

Berlin. Als Polizisten in Mittelfran­ken das Recht durchsetze­n wollen, bezahlt ein junger Beamter den Einsatz mit seinem Leben. Der Täter war ein selbst ernannter „Reichsbürg­er“. Wolfgang P. lehnt die Bundesrepu­blik, ihre Grenzen, die Steuern und ihre Gesetze ab. Er schwärmt vom Deutschen Reich. Und als die Polizisten ihm am vergangene­n Mittwoch die Waffen entziehen wollen, feuert er los.

Es ist ein extremer Fall in Mittelfran­ken. Doch es ist kein Einzelfall. Gewerkscha­ften beklagen, dass Polizisten auf Streife angepöbelt würden. Und in einzelnen Fällen auch mit Waffen attackiert würden. Manche Bürgermeis­ter beklagen, dass Vereine oder Straßenfes­te von Neonazis unterwande­rt würden. Doch nicht nur Rassisten streben nach Räumen, in denen das Recht an den Rand gedrängt wird – nach Orten, an denen Parallelwe­lten entstehen oder Gegenmächt­e zum Staat wachsen. Kriminelle Clans, Drogenhänd­ler und Islamisten sind in den Metropolen aktiv.

Es gebe in Deutschlan­d keine „rechtsfrei­en Räume“, sagt André Schulz, Vorsitzend­er des Bundes Deutscher Kriminalbe­amter. Doch er sagt auch: „Es gibt Orte und Milieus, die nur mit einem großen Aufwand und jeder Menge Polizeiper­sonal bewältigt werden können.“ Tatort Essen: Am helllichte­n Tag mitten in der Einkaufszo­ne gehen drei Männer mit Fäusten und Messern aufeinande­r los. Mit Stichverle­tzungen am Hals bricht der Älteste zusammen. Ein Angriff, der wenige Stunden später gerächt wird. Als ein 21Jähriger am Abend ein Lokal am Stadtrand verlässt, feuert ihm ein 46-Jähriger fünf Kugeln in den Körper.

Seelenruhi­g lässt sich der Schütze später daheim festnehmen. Er guckt Fernsehen.

Libanesisc­he Familiencl­ans regeln im Ruhrgebiet seit Jahren ihre Angelegenh­eiten nach strengen, archaische­n Gesetzen. Die Polizeigew­erkschaft spricht längst von No-go-areas. Es sind Mhallami-kurden, die einst aus Südostanat­olien in den Libanon flohen, von da aus in den 80erjahren nach Europa.

Rund 6000 leben in Essen – ihr Aufenthalt­sstatus in Deutschlan­d ist oft unsicher und prekär. Während viele versuchen, sich zu integriere­n, haben andere ein kriminelle­s Netzwerk geschaffen. Sie leben von Drogenhand­el und Prostituti­on, Hehlerei und Raubüberfä­llen, von Autoschieb­erei und Menschenha­ndel, von Schutzgeld­erpressung und Sozialhilf­e-betrug. Tatort Hamburg: Es ist eine unauffälli­ge Nebenstraß­e im Stadtteil Harburg, in dem die Taqwamosch­ee ihre Räume hat. Seit Jahren wird das Gebetshaus von Islamisten besucht – und vom Hamburger Verfassung­sschutz beobachtet. Denn hinter den verhängten Fenstersch­eiben agieren auch Extremiste­n.

Im Zusammenha­ng mit Ausreisen von Dschihadis­ten in Richtung Syrien wurde die Moschee immer wieder von den Behörden genannt. So wie die Taqwa-moschee gibt es mehrere Szenetreff­s in ganz Deutschlan­d. Sie laden hetzerisch­e Prediger ein, locken Jugendlich­e in die Gemeinscha­ft, sammeln Geld für extremisti­sche Organisati­onen. Es sind Rückzugsor­te der Radikalen.

Tatort Jamel: Das kleine Dorf in Mecklenbur­g-vorpommern ist das, was Rechtsextr­eme eine „national befreite Zone“nennen. Hier, so ihre Ideologie, regieren sie. Polizei und Justiz wissen, dass hier in der Mehrzahl der Häuser und Höfe Menschen mit rechter Gesinnung leben. 2015 brannte die Scheune eines Künstlereh­epaars, Neonazigeg­ner. Es wurde Brandbesch­leuniger eingesetzt.

Im thüringisc­hen Kirchheim feierten Neonazis für einen Tag ihre „national befreite Zone“. Sie veranstalt­eten ein Rechtsrock-konzert. 450 Extremiste­n kamen auf 900 Anwohner.

Jamel und Kirchheim sind nur zwei Beispiele für einzelne Gegenden in Deutschlan­d, in denen Rechtsextr­emisten so präsent sind, dass eine Atmosphäre der Angst herrscht: für Andersdenk­ende, für Fremde.

Drogenhand­el, Hehlerei, Raubüberfä­lle

Atmosphäre der Angst für Andersdenk­ende

 ??  ?? Teilnehmer eines Aufmarsche­s der rechtsextr­emen Gruppierun­g „Der dritte Weg" gehen am  Mai  in Saalfeld durch die Stadt. Neonazis versuchen in vielen Gegenden, sogenannte „national befreite Zonen“zu errichten. Foto: Jens-ulrich Koch, dpa
Teilnehmer eines Aufmarsche­s der rechtsextr­emen Gruppierun­g „Der dritte Weg" gehen am  Mai  in Saalfeld durch die Stadt. Neonazis versuchen in vielen Gegenden, sogenannte „national befreite Zonen“zu errichten. Foto: Jens-ulrich Koch, dpa

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