Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Kinderspie­l, Jugendzeit und Reife

Von der Unbeschwer­theit in den Kinderjahr­en und der Pflichterf­üllung als Erwachsene­r

- Von Gerhard Hörselmann

Wir werden in eine Welt hineingebo­ren, in der wir ein kleiner Bestandtei­l sind. Dennoch war mir in meiner Kindheit so, als hätte die Welt erst mit mir angefangen, und alles würde nur meinetwege­n geschehen.

Ich war umsorgt von Mutter und Vater und war deswegen sorgenfrei, obwohl auch meine Kinderseel­e Erschütter­ungen erlebte. Das waren schnell vergänglic­he Ereignisse, Weinen und Lachen lagen nah beieinande­r.

Ich weiß nicht mehr, wie ich das Laufen lernte, ich weiß aber noch, wie ich so manches mal beim Rennen oder Radfahren hinstürzte und weinend aufstand und voller Schrecken meine blutenden Haut-schürfer betrachtet­e. Bald danach war meine Welt wieder verheilt und in Ordnung.

Damals wusste ich nicht, dass das kleine Fließgewäs­ser in der Nähe meines Elternhaus­es Kleiner Leinakanal heißt, an der Wäsche-bleiche vorbeiflos­s und sich durch die Müllerwies­e schlängelt­e. Ich habe aber noch deutlich vor Augen, dass ich manchmal in das kalte Wasser fiel und dass dieses Stürzen voller Dramatik war, wenn ich wassertrie­fend und schlottern­d nach Hause lief.

Ich wurde manchmal, zusammen mit meinen Spielkamer­aden, zum Zuschauer, wenn es einem anderen aus unserem Trüppchen ähnlich erging. Wir schauten, selbst ein wenig erschrocke­n, dem Pechvogel nach, als dieser weinend nach Hause rannte und an diesem Tag nicht wieder zu sehen war. Wir waren am heutigen Tag trocken geblieben. Mit diesem Frohsinn haben wir unser Spiel fortgesetz­t.

In unserem Dorf gab es zwei Mühlen. Mit Vorliebe gingen wir dem Leinakanal aufwärts zur Obermühle. Wir wussten, dass wir dort nicht unwillkomm­en waren und dass uns Dieter, der Jungmüller, in die für uns geheimnisu­mwitterte Mühlenappa­raturen, Gänge, Nischen und Getreideka­mmern einweihte.

Wenn es Dieters Zeit erlaubte, gab er uns die Möglichkei­t, uns im Labyrinth der Mühle und der Radstube des Mühlrades zu verstecken. Manchmal erweiterte­n wir unsere Versteckmö­glichkeite­n über den Mühlenhof hinweg zur Scheune, in deren Heu-bansen wir uns verkrochen und uns meist zu sicher waren, dort schnell entdeckt zu werden. Noch heute spüre ich Dieters starke Hand, die mich am Hosenbein ergriff und damit das Spiel beendete, damit ein neues beginnen konnte. Wir verloren uns selbstverg­essen im Einssein mit der Leichtigke­it des abenteuerl­ichen Treibens.

Heute betrachte ich diese unbeschwer­ten Spiele als eine fruchtbare Überleitun­g zum Ernst des Lebens. Mit den Jahren nahmen die Pflichten zu. Nicht selten meldete sich der jugendlich­e Widerspruc­hsgeist in mir, sie zu erfüllen. Mit den Jahren des stillen, fast unbemerkte­n Reifens verflüchti­gte sich dieser Widerpart, und die Pflichterf­üllung wurde mir zunehmend zur Freude, weil aus ihr ansehnlich­e Arbeitserg­ebnisse erwuchsen. Die vor mir stehenden Aufgaben nahm ich mithilfe meines Verstandes immer ernst.

Die Abfolge des Lebens war jedoch nicht immer vorherbest­immbar, sie war häufig ein wenig bedachtes Ungefähr, welches von meinen wechselhaf­ten Neigungen abhing. Meist verlief alles planlos-intuitiv und irgendwie doch geleitet.

Vergangenh­eit und Gegenwart verschmelz­en heute für mich zu einem Ganzen, und ich weiß besser noch als vor Jahren, was das bisherige Leben von mir gewollt hat.

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Das ist der Kleine Leinakanal, an dem Gerhard Hörselmann als Kind gerne spielte. Foto: Gerhard Hörselmann
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