Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Leben gehen sehen
as Telefon klingelt. Ich greife den Hörer. Franziska ist dran. Die habe ich konfirmiert: „Pastor, komm! Oma stirbt jetzt! Beeil Dich! Jetzt brauchen wir Dich – geht das?“Ich steige ins Auto. Fünfzehn Minuten Fahrt. Dann Parkplatzsuche. Dann durch den frühen Frühling. Haupteingang. Fahrstuhl. Ein Zimmer. Gesichter. Ich habe mein Gesangbuch. Ich rede mit der Frau. Sie liegt tief atmend schlafend. Sie wird nicht mehr wach.
So nimm denn meine Hände! Wir liegen uns in den Armen. Und wir weinen. Wir kennen uns gut. Ich gehe ein bisschen vor ihnen. Sie bleiben am Bett sitzen. Es ist, als seien die Osterkerzen auf einmal ausgepustet worden.
Drei Tage später tragen wir sie zu Grabe. Und ich lasse das Leben der alten Dame noch einmal leuchten. Und ich erzähle davon, dass sie sich immer angelehnt hat an eine viel größere Schulter. „Gott wird mich nicht vergessen“, hat sie oft gesagt.
Am Gründonnerstag war sie noch mal in der Kirche gewesen. Das letzte Bild, das ich von ihr habe: Eine Frau, klein, aber stolz, lebenserfahren. Und sie geht in den lachenden Frühling hinaus.
Nun ist sie tot.
Ob sie es geahnt hat, dass wir uns hier nicht wiedersehen? Ob sie gehört hat, wie wir für sie gebetet haben: „Bettete ich mich bei den Toten – so bist Du auch da…“? Manchmal ist fremder Glaube stärker als der eigene.
Immer, wenn Ostern gerade war! Immer, wenn die Weidenkätzchen den Frühling zeigen! Immer, wenn die Sonne wieder hohe Bahnen an längeren Tagen macht! Nein, nicht immer nur dann gehen sie. Und nicht immer gehen sie alt und lebenssatt.
Aber ich hab gesehen, dass sie mutig gehen. Und dann ist Ostern gewesen. Für den kurzen Moment. Und für die anderen. Und für mich auch. Und ich schaue raus. Ich sehe die Natur voller Leben. Und hab Ostern in den Knochen. Ich kenne ihre einfache Zuversicht. Und ich lasse mich trösten über die Welt, deren Gast ich bin und an deren Schöpfer ich glaube. Dem geht keiner verloren, denn Jesus hat die Tür zu ihm geöffnet. Wir dürfen ankommen und leben. So, wie er auch lebt.
Heiligenstadt.
Er ist schlank und jugendlich, sein Gesicht stellt kein Porträt einer bestimmten Person dar, die tatsächlich gelebt hat, sondern hat idealisierte Züge, dem damaligen Zeit- und Kunstgeschmack entsprechend. Er trägt die Bekleidung eines Diakons, steht in der Nordseite der Kirche und ist – nach Expertinnen-aussage – „dank der sehr schönen Restaurierung elegant geworden“. Eine Restaurierung im Jahr 2003, die der Initiative des Heiligenstädter Fördervereins „St. Martin“zu danken ist.
„Ich kenne ihn noch mit Zementnase“, erklärte am Donnerstagabend in der evangelischen Kirche St. Martin Anja Lempges, die wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Direktorin des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums in Mainz. Sie gilt als „die“Kennerin der „Atzmänner“– das sind „Skulpturen in liturgischen Gewändern, die dem Priester symbolisch ein Buch zum Gebet oder Gesang reichen“. Im Jahr 2012 promovierte sie mit ihrer Arbeit „Der Atzmann – Form und Funktion eines mittelalterlichen Pultträgers“.
Mit ihrem Vortrag „Ein Mainzer Gesandter unter Heiligen – der Atzmann aus der Martinskirche in Heiligenstadt“stellte sie