Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Taktischer Gesetzesbruch
Wie nennt man es, wenn eine Regierung ein Gesetz plant, das ein Gesetz verletzt, das sie selbst zuvor beschloss? Bevor versucht wird, darauf eine Antwort zu geben, sei nochmals der obskure Vorgang dargestellt.
Innenminister Holger Poppenhäger präsentierte also vorige Woche die überarbeiteten Eckpunkte der Kreisreform. Sie unterschieden sich an etlichen Stellen von den früheren Plänen, wobei sich einige Veränderungen durchaus begründen lassen.
An zwei Punkten jedoch verstößt der Entwurf klar gegen das Vorschaltgesetz, das von Poppenhäger selbst erarbeitet wurde, das die Regierung beschlossen und das der Landtag mit Koalitionsmehrheit verabschiedet hatte.
Darin steht: „Kreisfreie Städte sollen mindestens 100 000 Einwohner haben.“Diese Mindestgröße, heißt es darüber hinaus, dürfe bis zum Jahr 2035 nicht unterschritten werden.
Gemäß der Prognose des Landesamtes für Statistik, auf die sich die Regierung stützt, werden dann in Weimar 61 075 Menschen leben. In Gera sollen es 79 515 sein. Die 100 000-Einwohner-grenze wird also in beiden Fällen nicht ansatzweise erreicht.
Trotzdem hat jetzt Poppenhäger in Absprache mit dem linken Ministerpräsidenten vor, beiden Städten ihre Kreisfreiheit zu lassen. Sie hätten nachgewiesen, sagte Bodo Ramelow, dass sie langfristig für ihre Eigenverwaltung aufkommen könnten.
Es ist erstaunlich, wie die Regierung eines Landes, das die Stadt Gera mit Millionensummen vor der Pleite retten musste, zu dieser Erkenntnis kommt – zumal sie sehr neu ist. Schließlich war es Poppenhäger, der erst im Februar Änderungen am Vorschaltgesetz definitiv ausschloss.
Aber so ist das eben, wenn inhaltliche Erwägungen einem opportunistisches Manöver untergeordnet werden. Der Protest in Weimar, dessen Oberbürgermeister derselben SPD wie der Innenminister angehört, war einfach zu groß geworden, zumal die Verfassungsklage der Stadt Erfolg haben könnte. Und weil das kleinere Weimar nicht besser als das größere Gera gestellt werden kann, soll nun auch die vormalige Bezirksstadt in Ostthüringen kreisfrei bleiben. Koste es, was es wolle.
Doch der politische Preis dieses Manövers ist hoch. Es legt die fatale Schlussfolgerung nahe, dass diese Regierung ihr eigenes Gesetz nicht ernst nimmt. Und es dürfte schwerwiegende und sehr konkrete Folgen für die anstehenden Verhandlungen vor dem Verfassungsgericht haben, in der Poppenhäger genau dieses Gesetz verteidigen muss.
Denn warum sollte das, was für Weimar oder Gera gilt, nicht für tatsächlich wirtschaftlich starke Landkreise wie das Eichsfeld oder Schmalkaldenmeiningen gelten? Und warum wird bei Gemeindefusionen auf jedes Komma von Regelungen geachtet, die bei anderen nicht die Halbwertszeit eines Jahres haben? Ist etwa nicht jede Kommune vor dem Gesetz gleich?
Ansonsten ordnet sich der Vorgang in eine lange Reihe inhaltlicher, taktischer und kommunikativer Missgriffe dieser Koalition ein. In der Summe könnten sie die nötigen Strukturveränderungen in Land und Kommunen scheitern lassen – und im Extremfall die Regierung gleich mit. Schon jetzt kann man live dabei zusehen, wie sich das Kabinett zerstreitet und die knappe Mehrheit im Landtag erodiert.
Der Ministerpräsident mag noch so sehr darauf verweisen, dass die CDU in der letzten Wahlperiode eine Verwaltungsund Gebietsreform verhinderte. Und er kann sich noch so sehr darüber klagen, dass sich alle Welt gegen Rot-rot-grün verschworen habe. Doch dies ändert nichts an dem Befund, dass die Situation, in der sich die Koalition befindet, selbst gemacht ist.
Denn von der Verwaltungsreform, die Bodo Ramelow selbst als Basis des gesamten Projekts bezeichnete, lässt sich nichts Greifbares erkennen. Und selbst wenn bei der Gebietsreform die Grundrichtung stimmt, so hat die Koalition doch mindestens zwei große Fehler begangen, mit deren Auswirkungen sie überfordert erscheint.
Erstens weigerte sie sich, den größeren Orten in den Verwaltungsgemeinschaften den Erhalt ihrer formalen Selbstständigkeit anzubieten, zum Beispiel über eine Verbandsgemeinde. Damit brachte sie die Dörfer gegen die Reform auf, versorgte das Volksbegehren mit Zulauf und nötigte eine linksgeführte Regierung zur Klage gegen eine direktdemokratische Initiative.
Zweitens garantierte man Jena ohne Not die Kreisfreiheit. Dies verhinderte die sinnvolle Fusion der Stadt mit dem Holzland sowie die Bildung eines überschaubaren Saale-kreises und nährte vor allem erst die Ansprüche von Gera und Weimar.
Die neueste Wendung korrigiert nichts davon. Die Koalition macht mit diesem taktischen Gesetzesbruch – denn darum handelt es sich – alles nur noch schlimmer. Ihr dritter großer Fehler ist womöglich einer zu viel.