Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Übermensch am Mittwoch der zweiten Schöpfungswoche
Philosoph Peter Sloterdijk beim Auftakt des Ettersburger Pfingstfestivals: „Die Religion ist heute zum ersten Mal wirklich völlig frei!“
Ettersburg.
Es war reiner Zufall oder, je nach Glaubenskonzept, göttliche Fügung: Während in Weimar der lutherische Kirchentag sich an gesellschaftspolitischer Sinnstiftung versuchte, ereignete sich hinterm Ettersberg ein Gegenprogramm. Mit einem Glas Wein und seinem neuen Buch „Nach Gott“in Händen, trat der Philosoph Peter Sloterdijk in den Gewehrsaal von Schloss Ettersburg, um dort, vier Wochen vor seinem 70. Geburtstag, eine frohe Botschaft zu verkünden: „Die Religion ist heute zum ersten Mal wirklich völlig frei!“
Mit ihrer Kernkompetenz, die Ungeheuerlichkeit der Existenz auszulegen, befinde sie sich nunmehr in freier Konkurrenz zu den Künsten und der Philosophie. Bislang sei Religion ja „immer missbraucht worden als eine Art sozialer Alleskleber, der Gesellschaften zusammenbinden und Gemeinschaften stiften musste“. Denn ansonsten gab es demnach lange wenig Grund zusammenzuleben. Wenn dem so ist, beschreibt das einen Weg, der lange vor einem berühmten Nietzsche-wort begann und in ihm nur vorläufig kulminierte: „Gott ist tot!“Sloterdijk, fürs Pfingstfestival am Samstag prologierend im Gespräch mit Manfred Osten, versuchte einzuordnen: „Gott ist tot“sei nur als Metapher verstehbar, gebunden an Vitalismus. Nur wer lebt, heißt das, kann sterben. Wenn Gott unsterblich ist, ist er nicht lebendig.
Er verblasst stattdessen. Sloterdijk operiert mit dem Begriff Götterdämmerung. Europa, sagt er, sei seit dem 14. Jahrhundert „ein Trainingslager der Überwindung“. Es ist die Überwindung eines Konzeptes von einem Gott, der „auf eigene Schöpfervergangenheit festgelegt ist und bei der Erneuerung der Welt nicht mehr mitgeht.“Er ist nicht modernitätsfähig. Dass der Mensch nicht über die Grenzen der Schöpfung hinausgehen soll, ist für Sloterdijk ein Problem der konservativen Theologie (ob nun Christentum oder Islam): „Der Gott der Schöpfung muss sich am Sonntag, am Ruhetag, entscheiden, ob er weitermacht oder weiter ruht.“
Denn, so ließe sich übersetzen: Der Mensch mag Schöpfung sein, aber offensichtlich ja eine mit eigener schöpferischer Fähigkeit. Als solcher muss er, sagt der Philosoph, „über den hinausgehen, der die Natur in erster Auflage herausgebracht hat.“
Er wird dabei: Übermensch, ein laut Sloterdijk weithin missverstandener Begriff. Dabei sei es das christlichste Wort, das Nietzsche je benutzt habe, gemeint als „nachchristliches Synonym für den Heiligen“. Dass der Mensch die Welt, also auch die Natur und sich selbst verändert, begreift Sloterdijk als „die zweite Schöpfungswoche“. In ihr befänden wir uns jetzt mindestens am Dienstag, wenn nicht Mittwoch.
Daraus erwächst dem Westen ein Vorwurf aus der islamischen Welt. Eine „Allah-dämmerung“zieht laut Sloterdijk nicht heran. Dabei sei Religion (ob Bibel oder Koran) „Poesie, die nicht zugibt, Poesie zu sein.“
Das war jedenfalls ein (auch zu Widerspruch) anregender Auftakt für einen Festivaldiskurs zum Zeitalter. Darauf folgt am Mittwoch Schriftsteller Martin Mosebach, bekennendermaßen reaktionärer Katholik.
Nietzsches „Gott ist tot“ist nur als Metapher verstehbar