Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Das Vertraute im Fremden
Der Leiter des Weimarer Festivals „Yiddish Summer“, Alan Bern, erhält heute den Thüringer Verdienstorden
Aus einem Workshop vor 18 Jahren ist das längste und dichteste Sommerfestival für jiddische Kultur geworden. Weil es die richtige Musik zur richtigen Zeit war?
Sicher auch, aber nicht nur. Viele Teilnehmer sagen inzwischen, dass es ihnen vor allem um die besondere Art und Weise geht, wie wir wissenschaftlich, künstlerisch und sozial mit dem Thema umgehen.
Sie suchen nach dem inneren Kern von Musik?
Wir fragen uns, warum klingt diese Musik, wie sie klingt. Dann kommt ihre Geschichte hinzu und die Frage, wie ist sie aufgebaut. Da muss man tief in die Musikethnographie eintauchen, für viele Künstler ist das neu. Und über all dem schwebt die Frage nach der sozialen Wirkung der Musik. Warum es wichtig ist, dass ich als Künstler nicht nur schön spiele, sondern auch weiß, welche gesellschaftlichen Verhältnisse ich dadurch unterstütze. Zu den Aufgaben von „Yiddish Summer“gehört die Erforschung der jiddischen Musik in ihrem Verhältnis zu anderer Musik. Jiddische Musik ist immer auch ein Fenster in ein ganzes musikalisches Netzwerk. Musik aus Nahost fließt ein, deutsche Musik, russische, amerikanische. Das zu verstehen, ist ein Teil unserer Arbeit.
Beim „Yiddish Summer“fällt auf, dass Publikum nicht nur zu Konzerten, sondern auch zu Workshops eingeladen ist. Warum ist Ihnen diese Öffnung des künstlerischen Prozesses so wichtig?
Weil wir kein geschlossener Zirkel sein wollen, der nur mit Perfektion nach draußen geht. Wir glauben, dass auch die Kunst im Prozess wichtig ist, um sie zu verstehen. Manchmal höre ich von Besuchern: Die Musik war nicht unbedingt meine, aber ich bin trotzdem dankbar für dieses Erlebnis. Weil ich jetzt etwas verstehe, was mir vorher fremd war. Ich denke, auch diese Offenheit ist Teil unseres Erfolges.
Überhaupt ist seit Jahren ein Interesse für jiddische Musik in Deutschland zu beobachten, es gibt unzählige Bands, viele Festivals. Haben Sie eine Erklärung?
Über 1000 Jahre lang war jiddische Kultur in engem Kontakt mit dem Deutschen, der Austausch war gegenseitig. Es gibt viele Facetten, die vertraut vorkommen, obwohl die Musik fremd ist. Dieses Zusammenspiel zwischen Fremdheit und Vertrautheit hat eine große Faszination. Etwa so, als treffe man plötzlich einen bislang unbekannten Cousin und stellt überraschende Ähnlichkeiten und Unterschiede fest. Diese Entdeckung kann sehr emotional sein, man ahnt: Das hatte die deutsche Kultur auch gehabt, es ist verloren gegangen und jetzt wieder da.
Musik weckt Sehnsucht nach dem Verlorenen?
Niemand komponiert heute noch wie Beethoven. Trotzdem hören wir gern eine Beethoven-sinfonie. Ist das Sehnsucht?
Was sagen Sie?
Ich denke nicht. Ich glaube, dass es in der Musik der Vergangenheit immer Inhalte gibt, die uns heute noch viel zu sagen haben, die uns etwas bedeuten. Möglicherweise sind es auch Momente, die wir in der zeitgenössischen Kultur vermissen. Im Übrigen macht die Mehrheit der jiddischen Musikbands in Deutschland neue Musik auf der Basis der traditionellen. Das ist mit dem Jazz vergleichbar. Um ihn neu zu spielen, muss man seine Geschichte kennen, sonst bleibt man an der Oberfläche.
Sie selber haben mit der Klassik begonnen, am Klavier galten Sie schon als Kind als hoffnungsvolles Talent. Dann wurde irgendwann Klassik für Sie die Musik des Establishments?
Ich war ein Teenager, als ich die Rolling Stones, die Beatles und Miles Davis entdeckte. Die haben genauso künstlerisch gedacht wie Stockhausen. Für mich war jedes neue Album der Beatles eine Offenbarung.
Die soziale Wirkung, von der Sie vorhin sprachen, hieß damals Aufbruch?
Genau, ich habe mich nach jeder neuen Aufnahme gefragt, wohin die Reise noch gehen würde.
Obwohl Sie aus einer jüdischen Familie kommen, hat es eine Weile gedauert, bis Sie die jiddische Musik für sich entdeckt haben. Das scheinbar Naheliegende gilt für einen Künstler nicht?
Offenbar nicht. Ich zum Beispiel habe als junger Mann mit europäischen Wurzeln begriffen, dass ich zwar weiß, wie bei Strawinsky der Tango klingt, aber nicht, wie er in Buenos Aires getanzt wird. Ich kannte Chopin-walzer, wusste aber nichts über den traditionellen Walzertanz. Ich schwebte gewissermaßen auf einer hohen Ebene, ohne die Wurzeln zu kennen. Deshalb begann ich, mich mit traditioneller Musik zu beschäftigen. Je tiefer die Wurzel ist, desto größer die Freiheit, etwas mit ihr zu machen, das Bestand über eine Mode hinweg hat.
Man merkt, dass Sie auch Philosophie studiert haben, es scheint viele Schnittmengen mit der Musik zu geben.
Der erste große Musiktheoretiker hieß Pythagoras! Die Grenzen zwischen Musik und Philosophie sind tatsächlich fließend.
Sie befinden sich gerade auf Madeira in einer längeren Auszeit. Weil Kunst auch Besinnung und Reflexion braucht?
Nicht nur die Kunst! Der Erfolg von „Yiddish Summer“ist zugleich das Ende einer Phase und der Beginn einer neuen. 1999 war ich 44 Jahre alt, jetzt bin ich 61, da sieht das Leben anders aus. Ich lese viel, spiele Klavier und Akkordeon, übrigens auch viel Tonleitern wie einst als Kind. Ich nutze die Zeit und die Ruhe, um zu spüren, wie meine nächste Lebensphase aussehen wird.