Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Nichts gelernt
Worum geht es in dem Dramolett, das gerade die deutsche Hauptstadt beschäftigt? Geht es darum, ob mehr Flüchtlinge an den Grenzen abgewiesen werden? Am Rande, vielleicht?
Geht es um den Machterhalt der CSU in München und die Machtverteilung in Berlin? Das schon eher.
Oder geht es nicht vielmehr um etwas, was größer ist als eine Regionalpartei, eine Koalition oder eine Bundesrepublik? Geht es nicht darum, ob wir etwas aus dem gelernt haben, was war? Unbedingt.
Gewiss ist, dass die Flüchtlinge wieder nur als Vehikel dienen. Sie werden politisch instrumentalisiert. Dies betrifft Teile der Linken, die immer noch so tun, als ob offene Grenzen für alle ein realistisches Konzept seien, und meinen, sich damit moralisch über andere erheben zu können. Integrationsprobleme, von den Belastungen der Sozialsysteme über Ghettoisierung bis zur erhöhten Gewaltkriminalität, werden systematisch kleingeredet.
Auch dadurch wurde die AFD gestärkt. Denn diese Partei ist eines jener politischen Wesen, die sich von Angst ernähren. Angst, die erst richtig wächst, wenn jene, die sich ängstigen, nicht wahr- und ernstgenommen werden.
Denn die Angst vor dem Abstieg ist real, auch wenn dieser Abstieg nichts mit Zuwanderung zu tun hat. Die Angst vor Veränderung ist zumindest nachvollziehbar, weil Veränderung Nachteile bringen kann. Und selbst die Angst vor dem anderen, dem Fremden, muss zumindest als das verstanden werden, was sie ist: Ein in Jahrhunderten antrainierter Reflex, der sich nicht wegadministrieren lässt, sondern dem nur durch eine maßvolle Politik, die diese Ängste langsam abbaut, begegnet werden kann.
Die Monate der staatlichen Überforderung, die neben den nicht kontrollierbaren
Martin Debes ist Chefreporter der Thüringer Allgemeinen
Umständen vor allem alten und neueren politischen Fehleinschätzungen und Fehlern geschuldet waren, schienen diese Ängste zu bestätigen und lösten einen gesellschaftlichen Schock aus, der so etwas wie eine kollektive posttraumatische Störung produzierte – wobei parallel, auch dies gehört dazu, der unvergleichlich größere, singuläre Schock der deutschen Geschichte seit Längerem seine Nachwirkung einbüßt.
Diese posttraumatische Störung überdeckt, dass zurzeit weniger Menschen nach Deutschland kommen, als es die sogenannte, eher politisch definierte Obergrenze vorsieht. Sie überdeckt, dass die Balkanroute de facto geschlossen ist, das Asylrecht mehrfach verschärft sowie der Familiennachzug erst ausgesetzt und schließlich eingeschrumpft wurde.
Auch gibt es jetzt schon Kontrollen an den Grenzen und werden dort Menschen zurückgewiesen. Es spricht einiges dafür, konsequenter vorzugehen, ohne allerdings dass – so wie beim Dublin-abkommen – so ziemlich alle Eu-staaten außer Deutschland das Nachsehen haben.
Hinzu kommt: Es kehren Migranten in ihre Heimatländer zurück, und, ja, es wird abgeschoben. Die Zahl der Geflüchteten, die zum Beispiel in Thüringen leben, erhöht sich deshalb kaum, bewegt sich zwischen 20000 und 25 000.
Dennoch wachsen die Ängste. Der Schock von 2015 wirkt nach. Er lässt Teile der Öffentlichkeit hysterisch auf Taten Einzelner reagieren. Und er lässt Teile der Union und der FDP im Angesicht von Wahlen nicht nur die Rhetorik der AFD übernehmen. Antiabschiebeindustrie, Asyltourismus, Asylwende: Das ist der Höcke-kanon.
Dies alles ordnet sich ein in das, was uns herum geschieht. In Europa begann es im Osten, in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei. In Italien war Berlusconi der Wegbereiter für die Lega. In Frankreich ist der Front National, der sich neuerdings modebewusst Sammlungsbewegung nennt, nur vorläufig besiegt.
Egal, wohin man schaut, in die Türkei, China, Russland, nach Venezuela: Dort, wo es Demokratie gab, dräut die Autokratie – und dort, wo Autokraten herrschen, die Diktatur. Und auch wenn man die USA nicht mit ihrem Präsidenten verwechseln sollte: Wie Donald Trump sein Amt benutzt, Institutionen schleift und Grundrechte ignoriert, wie er Nato, EU oder WTO missachtet, wie er in einen globalen Handelskrieg zieht: Dies alles zeitigt Folgen, die noch unabsehbar sind.
Nach ihrem angeblichen Ende beginnt die Geschichte einfach noch mal von vorne. Der Nationalismus ist wieder da, borniert, dreist und hässlich wie eh und je, so, als habe es die Weltkriege nie gegeben. Neu ist nur der gigantische Resonanzraum des Internets, sind Überbevölkerung, Klimawandel, Terror, in diesem schrecklichen, großartigen, verwirrenden 21. Jahrhundert.
Das ist kein Spiel. Das ist ernst. Dennoch riskieren gerade einige, mal eben so, die Stabilität des größten demokratischen Staates in Europa.
Sie haben offenbar nichts gelernt.