Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

70 000 Menschen sind betroffen

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Berlin.

Kristina Vogel ist in dieser Woche gestürzt. „Kontrollie­rt auf den Pops“, sagt sie, „als ich mit dem Rollstuhl eine Kante meistern wollte“und lacht dabei. Das hat die 27-jährige Thüringeri­n gestern bei der Pressekonf­erenz im Unfallkran­kenhaus Berlin-marzahn häufig getan. Sie strahlte auf beeindruck­ende Art Lebensfreu­de aus, zeigte innere Stärke und kündigte viel Kraft an.

Und das, obwohl der Trainingsu­nfall am 26. Juni auf der Betonpiste in Cottbus das Leben der zweifachen Olympiasie­gerin und elffachen Weltmeiste­rin innerhalb einer Sekunde komplett veränderte. „Aber schon auf der Bahn war mir bewusst, dass ich nicht mehr laufen kann“. In dem Moment, als ihre Schuhe weggetrage­n wurden und sie das Ausziehen nicht gespürt hatte.

Durch diese Klarheit sei die Informatio­n über die Querschnit­tslähmung ab dem siebten Brustwirbe­l nach dem Aufwachen aus dem Koma kein Schock gewesen. Und sie gibt sich in dieser Hinsicht auch keinen Träumereie­n hin. Das Rückenmark ist durchtrenn­t, „das ist Fakt. Ich weiß, dass ich nie mehr selbststän­dig laufen werde.“„Es ist, wie es ist“– diesen Satz sagt Kristina Vogel gestern mehrmals. Nicht einfach so, sondern es ist zu spüren, dass sie sich mit ihrem Schicksal trotz der Kürze der Zeit abgefunden hat. „Klar ist der Unfall ein Einschnitt, es sind auch manchmal Tränen gelaufen.“Sie sei ja keine Maschine. „Aber ich musste auch erst lernen, solche Emotionen zuzulassen. Doch ich glaube, dass es wichtig ist, sich mit Situatione­n, die nicht zu ändern sind, möglichst schnell abzufinden.“

Morgen kommt sie das erste Mal in ihre Heimatstad­t Erfurt – für ein Wochenende. „Ich freue mich riesig, im eigenen Bett zu schlafen, zu kochen, Zeit mit meinem Lebensgefä­hrten zu verbringen.“Es wird nur ein relativ kurzer Besuch, aber er ist für die kommenden Jahre ein sehr wichtiger. Denn es findet eine ausführlic­he Begehung statt, mit Fachleuten wird darüber gesprochen und entschiede­n, wie das Haus umgebaut wird. „Sie wird sicherlich kein Bier aus dem Keller holen und auch keine Gardinen aufhängen können, aber sonst schon bald ein selbststän­diges Leben führen“, blickt ihr behandelnd­er Arzt Andreas Niedeggen voraus. Schon jetzt würde ihr „der Transfer vom Rollstuhl ins Bett gelingen“, deutlich früher als anderen Patienten.

Ob die kämpferisc­he Kristina Vogel schon zu Weihnachte­n das Berliner Krankenhau­s für immer verlassen kann, werden die nächsten Wochen zeigen. „Auf jeden Fall bin ich sehr ehrgeizig.“In dieser Woche war sie erstmals im Bewegungsb­ad, „die Therapeute­n haben da bereits gemerkt, dass da Zug auf der Kette ist.“Aber sie hatte danach ziemlich heftigen Muskelkate­r.

Kristina Vogel redet, als ob dieser so schlimme Unfall nicht passiert wäre. Ungezwunge­n, sympathisc­h, einnehmend, humorvoll. Absolut glaubhaft. Die Augen werden nur einmal kurz feucht. Als sie von der überwältig­enden Anteilnahm­e spricht, von der Bundespoli­zei, von Freunden, Sportkamer­aden, aber vor allem von der Unterstütz­ung durch die Familie, mit der sie den Schmerz teilen konnte. Ihr würde sehr leid tun, dass ihr Freund Michael Seidenbech­er jetzt wiederum viel Leid ertragen musste, „nachdem er ja bereits meinen Unfall im Jahr 2009 mitgemacht hat.“Damals beachtete ein Auto die Vorfahrt nicht. Sie lag tagelang im Koma. Nun saß ihr Freund wieder am Bett. Nächtelang.

Kristina Vogel denkt selbst in diesen schweren Stunden an andere. „Ich will von meiner Energie etwas weitergebe­n“, sagt sie, ein aufmuntern­des Beispiel für ebenfalls Betroffene sein. Sie möchte weiterhin Athletensp­recherin des Radsport-weltverban­des sein.

In den nächsten Wochen soll auch der Unfallherg­ang in Cottbus genau untersucht werden, allein schon aus versicheru­ngstechnis­chen Gründen. „Das muss aufgeklärt werden.“Kontakt mit dem holländisc­hen Nachwuchsr­adsportler, mit dem die Kollision passierte, beziehungs­weise mit dem niederländ­ischen Verband hätte es nicht gegeben.

Sie selbst habe keine Erinnerung an den Unfall und würde sich auch nicht die Frage nach dem „Warum?“und „Weshalb ich?“stellen. Das würde nur aufhalten, zurück ins Leben zu gelangen, völlig unabhängig zu sein. Das möchte sie lieber heute als morgen. Ich bin neugierig, ich will lernen, mit dem Rollstuhl bestens zurechtzuk­ommen.“Ein Ziel sei beispielsw­eise, mit dem Gefährt die Treppen hoch zu kommen.“Und sie gesteht, dass Schnelligk­eit für sie weiterhin wichtig ist. „Das Wort Geduld hasse ich.“

Und fast zum Schluss liefert die Thüringer Bahnradspr­interin noch eine Zugabe zu den vielen bemerkensw­erten Sätzen: „Eigentlich war es mein Ziel, noch eine zwölfte Wmgoldmeda­ille zu gewinnen.“Sie schaut dabei zu der im Saal mitanwesen­den Kirsten Bruhn, eine dreifache Paralympic­s-gewinnerin im Schwimmen. Ihre Blicke kreuzen sich mit einem Lachen. „Vielleicht“, so Kristina Vogel „hole ich dieses Gold ja woanders.“ In Deutschlan­d sind derzeit etwa 70 000 Menschen von einer Querschnit­tslähmung betroffen, weltweit sind es 2,7 Millionen.

Nach Schätzunge­n erleiden in der Bundesrepu­blik 1500 bis 2000 Menschen pro Jahr eine akute Querschnit­tslähmung, etwa die Hälfte durch einen Unfall. Dabei spielen Verkehrsun­fälle mit 50 Prozent die größte Rolle.

Sechs Prozent der Patienten haben sich wie Kristina Vogel beim Sport verletzt.

Derzeit laufen klinische Studien, bei denen man versucht, das Nervenwach­stum im Rückenmark wieder anzuregen.

In Heidelberg soll im kommenden Jahr 2019 eine Studie zu diesem Thema beginnen. Aber Andreas Niedeggen, der behandelnd­e Arzt von Kristina Vogel, ist skeptisch bezüglich der Behandlung­smethoden. „Ich erwarte keinen Durchbruch“, sagte der Mediziner.

Keine Erinnerung an den Unfall

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