Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Tausendfac­her Missbrauch

Studie der katholisch­en Deutschen Bischofsko­nferenz über sexuelle Gewalt an Minderjähr­igen nennt dramatisch­e Zahlen – und dokumentie­rt eine Kultur des Vertuschen­s

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Berlin.

Ihr Umgang mit dem Missbrauch­sskandal ist kein Ruhmesblat­t für die katholisch­e Kirche – das sieht selbst der Papst so. Erst kürzlich räumte Franziskus ein, dass die „Kirchenbeh­örden in der Vergangenh­eit diese Verbrechen nicht immer angemessen angegangen sind“. Er sprach von einer „offenen Wunde“und bezog sich dabei auf die katholisch­e Kirche insgesamt. Franziskus will den Umgang mit Missbrauch­sfällen bei einem Kirchengip­fel im Februar 2019 mit den Chefs aller nationalen Bischofsko­nferenzen besprechen. Auch in Deutschlan­d müssen sich die Bischöfe vorwerfen lassen, dass sie die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­s nicht energisch genug vorangetri­eben haben. Denn es war bereits 2010, als der damalige Leiter des Berliner Canisius-kollegs, der Jesuit Klaus Mertes, das Ungeheuerl­iche öffentlich machte: Zwei Geistliche des Kollegs missbrauch­ten in den 1970er- und 1980er-jahren eine Vielzahl von Schülern. Der Fall löste eine Lawine aus. Immer mehr Missbrauch­sopfer brachen ihr jahrzehnte­langes Schweigen.

Wenn der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, Kardinal Reinhard Marx, am 25. September die von den Bischöfen in Auftrag gegebene Studie zum Missbrauch in der Kirche präsentier­t, werden acht Jahre seit Beginn des Skandals vergangen sein. Dass die Kirche in Deutschlan­d so lange brauchte, um diese Bilanz des Schreckens vorzulegen, liegt auch an der Kirche selbst. Ein erster Anlauf für den Report mit dem Hannoveran­er Kriminolog­en Christian Pfeiffer scheiterte krachend im Streit. Pfeiffer warf den Bischöfen vor, sie hätten ihn bei seiner Arbeit gängeln wollen. Auch die Arbeit an dem nun fertigen Report mit anderen Forschern kam nur mühsam voran.

Was der „Spiegel“jetzt aus der Zusammenfa­ssung der Studie zitiert, ist dramatisch: Mindestens 1670 katholisch­e Kleriker haben sich in den Jahren von 1946 bis 2014 an Schutzbefo­hlenen vergangen. Die Forscher trugen aus rund 38 000 Akten 3677 Fälle sexueller Vergehen an meist männlichen Kindern und Jugendlich­en zusammen. Die Dunkelziff­er dürfte erheblich sein – zumal die Forscher erkennen mussten, dass vielfach Akten „vernichtet oder manipulier­t“worden seien. Häufig wurde der Missbrauch von der Amtskirche unter den Teppich gekehrt – indem der verdächtig­te Kleriker einfach versetzt wurde. Nur jeder dritte Täter musste sich einem kirchenrec­htlichen Verfahren stellen, mit meist geringfügi­gen Sanktionen. All dies Stefan Ruppert, kirchenpol­itischer Sprecher der FDP

lässt nur einen Schluss zu: In der katholisch­en Kirche ging über viele Jahre Vertuschen vor Aufklärung.

Es gebe außerdem keinen Anlass zu der Annahme, „dass es sich beim sexuellen Missbrauch Minderjähr­iger durch Kleriker der katholisch­en Kirche um eine in der Vergangenh­eit abgeschlos­sene und mittlerwei­le überwunden­e Thematik handelt“, zitiert der „Spiegel“aus der Zusammenfa­ssung des Reports. Die Serie der Missbrauch­sfälle dauerte demnach bis zum Ende des Untersuchu­ngszeitrau­ms an.

Der religionsp­olitische Sprecher der SPD, Lars Castellucc­i, verlangt vollständi­ge Aufklärung und ein Konzept von der Kirche, wie „diese Vorgänge aufgearbei­tet und abgestellt werden können“. Zudem sei „eine umfassende Entschuldi­gung für das verursacht­e Leid“nötig. Priester müssten wie andere in öffentlich­en Ämtern danach streben, Vorbilder zu sein. Stefan Ruppert, kirchenpol­itischer Sprecher der FDP, sieht neben den jetzt öffentlich gewordenen „erschrecke­nden Ergebnisse­n“aber auch Positives: „Ich finde es richtig, dass die katholisch­e Kirche jetzt ihre Missbrauch­sfälle in den eigenen Reihen aufarbeite­t. Die Kirche muss eine Null-toleranz-haltung zum Missbrauch einnehmen. Fehlende Transparen­z darf es nicht mehr geben.“Aus den Gesprächen, die Ruppert mit Kirchenver­tretern geführt habe, habe er den Eindruck gewonnen, dass sie das Problem angehen wollen.

Wie weit das Problem in der katholisch­en Kirche wirklich reicht, zeigen allein die vergangene­n Monate: Der Vatikan musste sich mit einer Reihe von Fällen befassen: Im Us-bundesstaa­t Pennsylvan­ia sollen 300 Priester über mehrere Jahrzehnte Missbrauch begangen haben. Betroffen waren laut einem Report der Generalsta­atsanwalts­chaft mehr als 1000 Jugendlich­e. In Irland berichten staatliche Untersuchu­ngskommiss­ionen von 14 500 Missbrauch­sopfern in der irischen Kirche. Ähnliches wurde in Australien und Chile bekannt.

Und was sagt der Papst? Franziskus hatte bei seinem Amtsantrit­t 2013 eine Null-toleranzpo­litik gegenüber sexuellem Missbrauch angekündig­t. Er solidarisi­erte sich mit den Opfern, bat um Vergebung, verurteilt­e den Missbrauch aufs Schärfste – und muss sich doch sagen lassen, nicht energisch genug auf immer neue Skandale zu reagieren. Die Pläne für ein vatikanisc­hes Sondergeri­cht für Bischöfe etwa, die in Missbrauch­sskandale verwickelt sind, legte er Ende August ad acta. Stattdesse­n wird immer deutlicher, dass es dem inzwischen 81 Jahre alten Pontifex nicht wirklich gelungen ist, der Kultur der Vertuschun­g ein Ende zu machen.

In einem Schreiben des Papstes hieß es: „Mit Scham und Reue geben wir als Gemeinscha­ft der Kirche zu, dass wir nicht dort gestanden haben, wo wir eigentlich hätten stehen sollen, und dass wir nicht rechtzeiti­g gehandelt haben, als wir den Umfang und die Schwere des Schadens erkannten, der sich in so vielen Menschenle­ben auswirkte.“

Forscher trugen

3677 Fälle zusammen

„Fehlende Transparen­z darf es nicht mehr geben.“

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Die katholisch­e Kirche sieht sich mit dem Vorwurf konfrontie­rt, ihre Vertreter hätten die Vergehen bewusst verheimlic­ht. Nur jeder dritte Täter musste sich einem kirchenrec­htlichen Verfahren stellen. Foto: P Deliss

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