Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
„Sterben! Was ist das?“
Seit über 40 Jahren spricht Alwin Meyer mit Menschen, die als Kinder Auschwitz überlebten. In einer Ausstellung erzählt er ihre Geschichten
Gotha.
Anfang 1945 im Konzentrationslager Auschwitz-birkenau. Während die russische Armee immer näher kam, schickte die SS noch Tausende Häftlinge auf Transporte in Richtung Westen, bevor sie selber floh. In der Umgebung des Lagers kursierten Nachrichten, dass sich in den Baracken Kinder ohne jede Begleitung, Fürsorge und Nahrung befanden. Drei Tage vor der Befreiung verschafften sich Emilia und Adam Klimczyk Zugang zum Gelände. Polnische Frauen zeigten ihnen einen Jungen, der Kola gerufen wurde. Niemand konnte den kinderlosen Eheleuten sagen, von woher der Junge stammte, wie alt er war oder wie er mit Nachnamen hieß. Klimczyks nahmen den Jungen mit und retteten ihm so vermutlich das Leben. Bis zu seinem Tod im Jahr 2002 lebte Kola Klimczyk als Architekt in Krakau zusammen mit seiner Frau Eva und seiner 1982 geborenen Tochter Dorota.
Es ist eine von vielen Geschichten , die der gebürtige Cloppenburger Alwin Meyer (Jg. 1950) in seiner Ausstellung „Vergeßt uns nicht! Die Kinder von Auschwitz“erzählt. Zu sehen ist sie bis zum 27. September im Tivoli in Gotha. Seit er Anfang der 1970er das ehemalige deutsche Vernichtungslager im heutigen Polen mit einer Jugendgruppe besuchte, habe ihn das Thema nicht mehr losgelassen, sagt Meyer. Seitdem hat er knapp 100 Überlebende gesucht und ihre Schicksale dokumentiert. Vor drei Jahren erschien im Steidl-verlag dazu sein Buch „Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz“(760 Seiten, 39 Euro).
Unter den mehr als 1,3 Millionen Menschen, die nach Auschwitz-birkenau verschleppt wurden, waren mindestens 232 000 Säuglinge sowie Kinder und Jugendliche im Alter von ein bis 17 Jahren. 216 000 waren Juden, 11 000 Sinti und Roma. Babys und Kinder wurden in Auschwitz in der Regel sofort ermordet. Hielt eine Mutter während der Selektion ihr kleines Kind im Arm, wurden beide vergast. Nur 650 Kinder und Jugendliche konnten am 27. Januar 1945 befreit werden. Die meisten waren jünger als 13 Jahre, darunter waren auch Neugeborene. Nach ihrer Befreiung kannten manche weder ihren Namen, ihr Alter, noch ihre Herkunft.
Mit seinen Recherchen gibt Alwin Meyer den heute hochbetagten Überlebenden Namen, Gesicht und Stimme. Viele, denen er in den vergangenen Jahrzehnten begegnete und deren Vertrauen er gewann, sprachen mit ihm zum ersten Mal über das Lagerleben. Nicht selten überließen sie ihm Aufnahmen, Briefe oder persönliche Aufzeichnungen – sofern sie sie besitzen. Oft sei nicht ein einziges Familienfoto erhalten geblieben. Die Erlebnisse aus der Lagerzeit verknüpft Meyer mit Erinnerungen aus der Zeit vor und nach dem Holocaust zu sehr persönlichen und eindringlichen Porträts.
Zu Kolas kindlichen Lebenserfahrung gehörte es, dass Menschen nicht sterben, sondern getötet werden. Als ein Verwandter gestorben war, nahmen ihn seine neuen Eltern mit zu dem Toten. Sie zeigten ihm den Leichnam und sagten: „Er ist gestorben.“„Wer hat ihn totgeschlagen?“wollte Kola wissen. „Er ist gestorben, nicht totgeschlagen worden.“Erst als man den Verstorbenen entkleidete und keine blauen Flecken, Verletzungen oder Einschüsse zu erkennen waren, wurde der Junge nachdenklich. „Sterben! Was ist das?“ Géza Schein wurde zusammen mit seiner Mutter Klára, seinem Vater Zoltán und seinen Großeltern im Juli 1944 in Auschwitz-birkenau „eingeliefert“. „Die SS sagte, dass die arbeitsfähigen Leute arbeiten werden. Sie mussten sich auf die eine Seite stellen. Die Alten, die Mütter mit Kindern, die Kinder, die Schwangeren auf die andere Seite“, berichtete er Alwin Meyer. Der Vater hatte dem 11-Jährigen eingetrichtert, dass er sich als 15-jähriger Bäckerlehrling ausgeben sollte. Geza und seine Mutter wurden schließlich im Konzentrationslager Gunskirchen befreit, er starb 1991 im Alter von 57 Jahren.
Besonders schlimm erging es schwangeren Frauen. In der ersten Zeit seien sie entweder mit Phenolinjektionen direkt ins Herz getötet, vergast oder totgeschlagen worden. Schwangere jüdische Frauen wurden aus anderen KZ zur Vergasung nach Auschwitz überstellt. Selten überlebten Neugeborene das Lager.
Die Ausstellung schildert das Schicksal von Barbara. Ihre schwangere Mutter Fjedora Kulik überlebte eine Massenerschießung in einem Dorf nahe Witebsk (Weißrussland), wurde verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Im Lager gebar sie Zwillinge: das Mädchen Katja und den Jungen Viktor. Junge und Mutter starben im Lager. Das Mädchen wurde später adoptiert, so erhielt sie den Namen Barbara. Ihren richtigen Namen habe sie damals nicht gekannt, ebenso wenig ihre leibliche Familie. Heute lebt sie bei Katowice.
Die Kinder von Auschwitz, die überlebten, seien oft voller Wut und Zorn über das, was ihnen und ihren Familien von Deutschen zugefügt worden war, sagt Alwin Meyer. Sie hassten und fürchteten die Deutschen zugleich. Yehuda Bacon war Ende 1943 als 14-Jähriger „einwaggoniert“worden, so nannte er die Deportation im Viehwagen. „Ich wollte keinerlei Kontakt mehr zu Deutschen. Alle Deutschen waren für uns wie die SS, die Mörder. Wir wollten Rache nehmen. Wir malten uns aus: Nach dem Krieg bauen wir eine große Mauer und lassen dahinter alle Deutschen verhungern“gestand er Alwin Meyer. Später malte er sich Auschwitz „vom Leibe“.
Die Zwillinge Olga und Vera Grossmann kamen sechsjährig mit ihrer Mutter nach Auschwitz-birkenau. Dort missbrauchte der Ss-arzt Mengele Zwillingspaare wie sie für pseudomedizinische Versuche. Sowohl jüdische als auch Sinti- und Roma-zwillinge wurden vermessen, geröntgt, ihre Augen verätzt, mit Viren infiziert, selektiert und schließlich getötet.
Die meisten von ihnen waren zwischen ein und sechzehn Jahren jung. Die Mädchen mussten Bluttests über sich ergehen lassen, bekamen Spritzen in die Wirbelsäule oder „Tropfen in die Augen“, was große Schmerzen verursachte. „Mit Einspritzungen von blauem Farbstoff wollte Mengele eine Änderung der Augenfarbe herbeiführen. Er suchte nach einer Methode, die zum Beispiel braune Augen von blonden Kindern in blaue Augen färbte, dies sollten ,arischen Vorstellungen‘ entsprechen“, erklärt Alwin Meyer. Die Schwestern überlebten. Seit 1953, ihrem 15. Lebensjahr, leben sie in Israel. Beide heirateten, schenkten jeweils zwei Kindern das Leben.
Neugeborene hatten kaum Überlebenschancen