Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

„Ich sehe Gefahren für unsere Demokratie“

Nach Chemnitz und Köthen beklagt Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) eine gefährlich­e Polarisier­ung des Landes

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Mein „Mutter-satz“geht anders. Ich sage: Die Mutter guter Politik ist die Anschauung vor Ort. Das ist ein Politikpri­nzip, das davon lebt, dass man sich erst einmal ein Bild macht, bevor man urteilt. Dazu gehört, dass man mit den Leuten direkt spricht. Nur so kann man verstehen, was wirklich los ist, und richtiges Handeln davon ableiten.

Sprachlich­e Verrohung ist verbreitet. Darf man Menschen „auf den Misthaufen“der Geschichte wünschen, wie es Ihr Parteifreu­nd Martin Schulz mit Afd-chef Alexander Gauland im Bundestag gemacht hat?

Ich verstehe gut, dass die Emotionen hochkochen, wenn man hört, wie die AFD argumentie­rt. Die Kritik, die Martin Schulz geäußert hat, teile ich. Es war gut, hier sehr klar zu reagieren. Dennoch: Egal wie verroht und niveaulos sich andere ausdrücken, wir müssen auf unsere Sprache achten. Menschen gehören nicht auf den Misthaufen. Politik darf einen solchen Umgang nicht vorleben. Je niveaulose­r andere werden, desto mehr Niveau müssen wir beweisen.

Sie beklagen Verrohung und Polarisier­ung – was hilft dagegen?

Über 30 Millionen Menschen engagieren sich freiwillig in Deutschlan­d. Es sind diese Menschen, die unsere Gesellscha­ft und die Demokratie stark machen. Diesen Engagierte­n will ich den Rücken stärken. Dazu habe ich unser Bundesprog­ramm „Demokratie leben!“entfristet. Wir stehen aber oft vor der Situation, dass wir ein sehr erfolgreic­hes Projekt in einer Kommune unterstütz­t haben. Dann müsste es eigentlich weitergehe­n. In einem zweiten Schritt müssten Projekte, die gut laufen, auch in andere Kommunen getragen werden können. Diesen zweiten Schritt dürfen wir derzeit ohne ein Bundesgese­tz nicht machen. Ich möchte, dass wir das ändern und künftig systematis­ch Initiative­n vor Ort unterstütz­en, die sich für die Demokratie stark machen. Deshalb arbeite ich für ein Demokratie­fördergese­tz.

Sind Sie auch für ein verpflicht­endes Dienstjahr für Schulabgän­ger?

Ich finde es richtig, wenn junge Leute sich für ein Jahr verpflicht­en. Einer Dienstpfli­cht für alle stehen aber hohe verfassung­srechtlich­e Hürden entgegen. Ich will deshalb den Freiwillig­endienst ausbauen. Es geht um Anreize und gute Bedingunge­n statt Zwang. Im Moment machen vorwiegend junge Menschen aus gut situierten Elternhäus­ern einen Freiwillig­endienst. Weil sie es sich leisten können, ein Jahr quasi ohne Lohn zu arbeiten. Viele andere gehen jobben oder machen eine Ausbildung, weil sie möglichst schnell ihr eigenes Geld verdienen müssen. Ich will, dass alle, die sich engagieren wollen, das auch können. Im Herbst werde ich darum Vorschläge zur Reform der Freiwillig­endienste vorlegen. Zum Beispiel wollen wir, dass junge Menschen sich auch in Teilzeit freiwillig einbringen können. Und wir prüfen, ob wir denen finanziell unter die Arme greifen können, die sonst nicht teilnehmen könnten.

Sie wollen Geld in die Hand nehmen, um der Zivilgesel­lschaft den Rücken zu stärken. Weil Sie die Demokratie in Gefahr sehen?

Ja, ich sehe derzeit Gefahren für unsere Demokratie, und ich fühle mich bedauerlic­herweise bestärkt, wenn ich sehe, wie die AFD im Bundestag auftritt. Ich verstehe gut, dass Menschen mit Migrations­hintergrun­d es mit der Angst zu tun bekommen. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Unsere Demokratie ist stark. Aber wir müssen auch bereit sein, sie zu verteidige­n. Unverzicht­bar ist dabei das freiwillig­e Engagement von Menschen im ganzen Land.

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Franziska Giffey (hier in ihrem Büro) beklagt eine Verrohung der Sprache – und kritisiert­damit auch Parteifreu­nd Martin Schulz, der die AFD auf den „Misthaufen“gewünschth­atte. Foto: Reto Klar

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