Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Wenn das Kind nicht mehr atmet

Jährlich müssen in Deutschlan­d bis zu 4000 Mädchen und Jungen wiederbele­bt werden. Experten bemängeln fehlendes Wissen bei Eltern

- Von Elena Boroda

Berlin.

Die Abstände zwischen den Geburtsweh­en werden immer kürzer, als Christian Flask* seine hochschwan­gere Frau ins Krankenhau­s bringt. Der Notfallarz­t ist guter Dinge. Flask steht seiner Frau im Kreißsaal als Vater und nicht als Arzt zur Seite. Nach mehr als zwölf Stunden erblickt seine Tochter das Licht der Welt. Dann Schreckens­sekunden. „Meine Tochter war aschfahl, bewegte sich nicht, atmete nicht“, erinnert sich Flask. Fruchtwass­er war in die Lunge gelangt. Der Gynäkologe und die Hebamme schienen überforder­t. Kaum war die Nabelschnu­r durchtrenn­t, reanimiert­e Flask sein Neugeboren­es, bis es seinen ersten Atemzug machte.

Eltern wollen über die Wiederbele­bung des eigenen Kindes in aller Regel nicht sprechen. Zu emotional ist ein solches Erlebnis. Christian Flask spricht darüber, um anderen Eltern Mut zu machen. „Auch wenn Eltern in aller Regel nicht ihr Neugeboren­es reanimiere­n, sondern ein Kind, das schon mitten im Leben steht, zeigt mein Beispiel, dass schnelles Handeln unverzicht­bar ist.“ Jedes Jahr werden nach Schätzunge­n des Deutschen Rates für Wiederbele­bung bis zu 4000 Kinder in Deutschlan­d reanimiert, davon bis zu 1000 außerhalb eines Krankenhau­ses. Genaue Statistike­n gibt es hierzu nicht. „Wie bei Erwachsene­n gehen wir davon aus, dass nur maximal 40 Prozent der Menschen, die in der Lage sind, zu reanimiere­n, das auch tun“, sagt Professor Bernd Böttiger, Vorstandsv­orsitzende­r des Deutschen Rates für Wiederbele­bung.

Die Überlebens­chancen der Betroffene­n liegen bei gut zehn Prozent. Dabei gibt es Luft nach oben: Diese Rate kann verdoppelt bis verdreifac­ht werden. „Würden mehr als 50 Prozent der Menschen reanimiere­n, dann könnten wir 10 000 Menschenle­ben jedes Jahr zusätzlich retten, auch zahlreiche Kinder“, ist sich der Arzt sicher. Besonders häufig müssen Kinder nach Verkehrs- und Badeunfäll­en reanimiert werden.

Lebensrett­end ist das Handeln vor Eintreffen des Notarztes. Im Schnitt braucht er acht Minuten, um an Ort und Stelle zu sein. „Das Gehirn beginnt nach drei bis fünf Minuten, abzusterbe­n. Deshalb muss vor dem Eintreffen des Notarztes sofort gehandelt werden“, erklärt Böttiger. „In dem Großteil der Fälle müssen Kinder wegen eines Atemversag­ens reanimiert werden. Ein Herzstills­tand ist sehr selten“, weiß Dr. Daniel Schachinge­r, Leiter der Zentralen Notaufnahm­en der DRK Kliniken Berlin.

Auch bei der Reanimatio­n von Kindern gilt das für Erwachsene bewährte „Prüfen, Rufen, Drücken“. Doch Besonderhe­iten sind zu beachten. Bei dem ersten Schritt der Reanimatio­n, dem Überprüfen der Bewusstsei­nslage, dürfe das Kind auf gar keinen Fall geschüttel­t werden, sagt Schachinge­r. Eltern könnten das aus Verzweiflu­ng oder Angst tun. Beatmen ist bei Erwachsene­n wünschensw­ert, bei Kindern Pflicht. „Bei bewusstlos­en Kindern ist in den allermeist­en Fällen kein Sauerstoff mehr im Blut“, erläutert Böttiger. Wenn der Erwachsene beatmet, umschließt er bei kleineren Kindern Mund und Nase. Bei größeren bewusstlos­en Kindern soll die Nase zugehalten und in den Mund ausgeatmet werden – so empfehlen es die Reanimatio­nsleitlini­en des Deutschen Rates für Wiederbele­bung.

Wenn das Kind bewusstlos erscheint, soll es zunächst fünf Mal beatmet werden. Jeder Atemzug sollte eine Sekunde dauern, so dass sich der Brustkorb hebt und senkt. Kommt der Atem des Kindes nicht in Gang, sollte eine Herzdruckm­assage erfolgen. „Bei Säuglingen wird die Herzdruckm­assage mit zwei Fingern durchgefüh­rt, bei älteren Kindern mit dem Handballen. Etwa zwei bis drei Zentimeter tief soll bei Kindern der Brustkorb eingedrück­t werden“, sagt Schachinge­r. Idealerwei­se folgen bei Kindern auf 15 Kompressio­nen zwei Beatmungen.

Für Eltern ist es nicht einfach, einzuschät­zen, wann ihr Kind ernsthaft krank oder nur stark erkältet ist. Denn Kinder können ihr Empfinden oft nicht richtig beschreibe­n, auch wenn sie bereits sprechen. „Gerade jüngere Kinder sagen häufig, sie hätten Bauchschme­rzen, auch wenn sie ganz andere Symptome haben“, sagt Schachinge­r.

Erwachsene müssen deshalb verschiede­ne Elemente in Beziehung zueinander setzen. „Wenn das Kind schnell atmet, ein graues Munddreiec­k hat, dann weist das auf eine schwere Erkrankung hin“, sagt der Notfallmed­iziner. Ein weiterer Hinweis: Das Kind wirkt teilnahmsl­os, lässt sich von Ärzten und Pflegern ohne Widerstand versorgen. „Das ist ein großes Alarmsigna­l, weil jüngere Kinder solche Situatione­n ablehnen, wenn es ihnen gut geht.“

Erwachsene müssen besonders aufmerksam sein, weil das Wohlbefind­en von Kindern sich schlagarti­g ändern kann. Sie haben eben noch gespielt und plötzlich hängen sie bei den Eltern schlaff auf dem Schoss, sind grau und atmen vielleicht nur noch sehr langsam. „Kinder können über einen längeren Zeitraum ihre Körperfunk­tionen aufrechter­halten, auch wenn sie angeschlag­en sind. Dann verschlech­tert sich ihr Zustand abrupt“, sagt Schachinge­r.

„Eltern sollten am besten Kurse zur Wiederbele­bung von Kindern besuchen, damit die nötigen Abläufe in Fleisch und Blut übergehen“, fordert Schachinge­r. Ganz entscheide­nd sei, in der ersten Minute zu handeln.

Tanja Knopp, Leiterin einer Grundschul­e in Bochum, pflichtet ihm bei. Die Lehrerin ist überzeugt, nicht nur Eltern, sondern auch Kita-mitarbeite­r und Lehrer sollten solche Kurse machen. Eltern ihrer Schüler hofften allzu oft, ihr Kind nicht wiederbele­ben zu müssen. „Wir haben 360 Schüler. Zehn Eltern machen im Jahr einen Reanimatio­nskurs.“

Hirn beginnt nach drei bis fünf Minuten abzusterbe­n

Tanja Knopp rettete selbst mithilfe ihrer Kollegen einen Zehnjährig­en aus einem Teich und reanimiert­e ihn. Der Junge überlebte. „Wenn man was tut, besteht immer noch die Chance, dass es gut geht, beim Nichtstun aber nicht“, sagt Knopp, die ehrenamtli­ch als Rettungssa­nitäterin beim Deutschen Roten Kreuz arbeitet.

Für Christian Flask und seine Frau war die Wiederbele­bung der Tochter einschneid­end. Über Wochen fühlte sich das Ehepaar bewegt, depressiv verstimmt. „Dieses Gefühl, das schwer zu benennen ist, brauchte Zeit, um seinen richtigen Platz zu finden. Dann geht es einem wieder gut und man ist besonders dankbar für das Geschenk, eine so wunderbare Tochter zu haben“, sagt Flask.

(*Die Namen wurden geändert)

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Foto: AP Bei Erwachsene­n ist die Beatmung in einem Notfall wünschensw­ert – bei Kindern ist sie Pflicht. In Kursen können Eltern das lernen.

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